18.07.2013

Zur Lage der "anthroposophischen" Medizin

"Am 20. April kam unsere Tochter zur Welt. Sie ist kerngesund, und wir sind überglücklich. Der Weg durch die Mechanik des ‹anthroposophischen› Krankenhauses, das wir für die Entbindung gewählt hatten, gestaltete sich jedoch als wahrer Spießrutenlauf…"

Johannes Mosmann: Ist Anthroposophie nur ein Adjektiv? Zur Lage der "anthroposophischen" Medizin
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12 Kommentare:

Stefan Oertel hat gesagt…

Köstlich geschrieben mal wieder. Ich hatte auf den Text, als er in der Newsletter erschienen war, auch schon einen Kommentar geschickt: für mich ungeklärt bleibt die Frage, wie man mit dem Attribut "anthroposophisch" für eine Institution überhaupt umgeht. Denn du gehst doch in ein "anthroposophisches" Krankenhaus, weil du da eben Anthroposophie erwartest; und du schickst dein Kind ja an die "Waldorfschule", weil du dort eben Waldorfpädagogik erwartest. Nun ist es ja gut und schön und auch einleuchtend, dass durch Klinikleitungen oder Lehrerkonferenzen der einzelne Arzt/Lehrer nicht bevormundet werden darf. Man kann "Anthroposophie" oder irgendeine andere Weltanschauung und Lebenshaltung ja nicht auf Autorität hin durchführen. Das wäre geistiges Beamtentum: der Oberbeamte sagt, wo's langgeht und die anderen agieren wie sein verlängerter Arm. So versucht es ja im Prinzip das Staatsschulwesen und deshalb ist es geistig gesehen auch so eine Unmöglichkeit. - Nur: was machst du andererseits, wenn unter dem Mäntelchen deiner Waldforfschule sich plötzlich Mitarbeiter einnisten, die sich für Waldorfpädagogik nicht bzw. nicht ernsthaft interessieren? Die das aber nicht zeigen. Und jetzt geben die Eltern ihre Kinder an die Schule, glauben sie bekommen Waldorfpädagogik, bekommen aber nur Philisterpädagogik mit Öko-Anstrich. Konsequenterweise müssten die Kollegien solche Lehrer ja rausschmeißen. Sofern jene nicht schon in der Mehrzahl sind... Dem Rausschmeißen steht übrigens das Arbeitsrecht entgegen. Man wird jemanden, der schon ein paar Jahre mitarbeitet, kaum mehr los, wenn man nicht gerade betriebsbedingt kündigen muss. Und in dem Rausschmeißen, liegt da nicht doch wieder eine Art Leitlinie? Alle Nicht-Anthroposophen müssen raus... Wann ist man eigentlich Anthroposoph? - Also nicht als Widerspruch ist das jetzt geschrieben, aber ich fände auch diese Seite der Sache beleuchtenswert.
Besten Gruß aus Mannheim
Stefan

Johannes Mosmann hat gesagt…

Lieber Stefan,

Danke! Wenn mein Text diese Fragen aufwirft, war es gut, ihn zu schreiben.

Du schreibst: "Du gehst doch in ein "anthroposophisches" Krankenhaus, weil du da eben Anthroposophie erwartest; und du schickst dein Kind ja an die "Waldorfschule", weil du dort eben Waldorfpädagogik erwartest." Schon an dieser Stelle musste ich innehalten. Ich weiß natürlich, dass man heute das Geistesleben als Dienstleister zu betrachten gewohnt ist, von dem man etwas "erwarten" kann. Gleichwohl habe ich große Zweifel, ob ihm durch diese Erwartungshaltung nicht gerade der Geist entzogen wird, den man "erwartet". Ich selbst denke genau umgekehrt: was der Geist ist, der zwischen Menschen lebt, das bildet sich eben zwischen diesen Menschen. Auch die Eltern sind nicht Beobachter oder Empfänger des Geistes, sondern Mit-Täter. Und diese Tatsache ist für mich das Primäre, wovon dann wiederum die Qualitätsfrage abhängt. Wenn ich das nämlich umkehre, wenn ich also sage: der Geist ist irgendwo da draußen, ich will ihn empfangen - wo ist der Geist denn dann? Also, wo ist das dann genau, "die Anthroposophie", "die Waldorfpädagogik", etc? Wo hält sie sich auf, wenn sie nicht in der Wirklichkeit der Begegnung erst entsteht? Man kommt, wenn man die Anthroposophie oder die Waldorfpädagogik von irgendwoher erwartet, gar nicht umhin, den Geist vom Menschen abgelöst zu denken und als Abstraktion zu nehmen, die irgendwo definiert in einem Archiv liegt. Das ist dann aber gar kein Geist!

Die Erwartungshaltung ist gewissermaßen selbst der psychologische Grund dafür, dass das Geistesleben zwischen Staat und Wirtschaft zerrieben wird. Denn der vom Menschen entäußerte Geist, das ist ja die Norm, daraus entsteht ja die Staatlichkeit. Das ist der Prozess. Andererseits ermöglicht erst diese Ablösung des Geistes seine scheinbare Handelbarkeit. Kapitalismus und Sozialismus sind also in Wahrheit symbiotisch (was z.B. ein Grundwissen der englischen Politik ist). Aus dem Wirtschaftsleben kommt deshalb in Wahrheit auch der Antrieb für den Prozess der Verstaatlichung der Bildung: um Waldorfpädagogik zur Ware machen zu können, muss überall das selbe drinnen sein, wo Waldorfpädagogik drauf steht. Wenn man daher Waldorfpädagogik als Marke verkaufen will, muss man in der eigenen Struktur das Prinzip des Staates kopieren, damit eben kein "freies" Geistesleben entsteht, sondern Normen eingehalten werden. Aus dem selben ökonomischen Instinkt, der zu Bologna und der "McDonaldisierung" des Bildungswesens geführt hat, speist sich also auch der Bund für Waldorfschulen. Ich hoffe Du verstehst mich richtig: ich sage damit nicht, dass einzelne Menschen innerhalb des Bundes nicht auch freies Geistesleben wollen, sondern beschreibe bloß die Psychologie der "Erwartung", wie sie sich dann in den (unbewusst) gemeinschaftsbildenden Strukturen niederschlägt.

Ich habe gar nichts dagegen, wenn sich ein ausgesprochener Waldorf-Gegner unter dem "Mäntelchen" der Waldorfpädagogik einnistet, sondern will umgekehrt jenes "Mäntelchen" als solches abschaffen. Das heisst, ich möchte den entgegengesetzten Bewusstseinsprozess ermöglichen. Ich möchte den Eltern sagen können: "Ich weiß nicht, ob die Waldorfschule an sich gut ist oder schlecht. Das kann man gar nicht allgemein sagen, denn das sind ja freie Schulen. Sie müssen also zu den Menschen, die Ihr Kind erziehen sollen, in ein Verhältnis kommen und sehen, was die unter Waldorfpädagogik verstehen. Das ist gerade das Wesentliche dieser Schulen". Dann bildet sich nämlich überhaupt erst Geistesleben. Allerdings können sich die "Waldorfschulen" dann nicht mehr so schnell verbreiten wie jetzt. Aber die existierenden wären dann tatsächlich Waldorfschulen! Die Erwartung dagegen erzeugt gerade die von Dir gefürchteten Schein-Schulen, weil man durch allgemeine Definitionen eben niemals eine geistige Wirklichkeit schafft, sondern sie tötet.

Was meinst Du dazu?

Herzliche Grüße
Johannes Mosmann

Johannes Mosmann hat gesagt…

P.S.: Ich werde demnächst eine Broschüre mit Zitaten von Rudolf Steiner zur Waldorfschule herausgeben. Es war ganz offensichtlich doch etwas sehr konkretes mit dem Wörtchen "frei" in "freie Waldorfschule" gemeint ...

Stefan Oertel hat gesagt…

Lieber Johannes,

nehmen wir einmal an, du wirst wirklich von Eltern gefragt, ob sie ihr Kind an eine bestimmte Waldorfschule geben sollen, ob da gute Pädagogik getrieben würde und ob es wirklich Waldorfpädagogik sei. Zwar kannst du nicht im Allgemeinen sagen, ob die Waldorfschule an sich gut oder schlecht ist, bei einer konkreten Schule ist die Situation aber möglicherweise anders. Da könnte es nun so sein, dass die Eltern dich bitten, eine Empfehlung auszusprechen, weil sie dir vertrauen. Vielleicht kennen sie den Herrn Mosmann aus anderen Zusammenhängen und geben etwas auf sein Urteil. Nehmen wir einmal an, du erklärst dich bereit, eine Empfehlung zu erarbeiten. Du gehst zu der entsprechenden Schule, guckst dir an, was läuft und prüfst beispielsweise, ob das, was dort stattfindet, wirklich Waldorfpädagogik ist. Die Grundlage der Empfehlung ist allein deine Urteilskraft und auch der Begriff "Waldorfpädagogik" ist keine Summe "objektiver" Kriterien, sondern die Summe der Vorstellungen, die du dir darüber machst. Diese Vorstellungen können falsch sein, sie sind aber für deine Auftraggeber (die Eltern) offenbar relevant genug, um dich ernst zu nehmen. Vielleicht geht es aber auch gar nicht um klare Vorstellungen, sondern um Gefühle. Du suchst in der Schule eine bestimmtes "waldorfpädagogisches Gefühl" und bestimmst anhand dessen, ob hier Waldorfpädagogik stattfindet. Wie auch immer, die Empfehlung, die du schlussendlich gegenüber den Eltern aussprichst ist dann das Ergebnis einer Art "Qualitätsprüfung". Du könntest sogar die Kriterien darzulegen versuchen, die du selbst bei der "Prüfung" angelegt hast. Das könnte den Eltern ein besseres Verständnis deines Urteils ermöglichen. Sie könnten sogar versuchen auf Grundlage deines Kriterienkataloges selbst Schulen zu beurteilen. Das geht genau so lange gut, wie sie für ihre Urteile ihren ganzen Menschen benutzen und deine Kriterien nur zusätzlich heranziehen. Es wird in dem Moment problematisch, in dem sie den Kriterienkatalog wie einen Automaten "urteilen" lassen: Eurythmie-Unterricht an der Schule? Ja! - Kriterium erfüllt. Pentatonflöten in der Unterstufe? Nein! - Kriterium nicht erfüllt. Und so weiter. Bei einer bestimmten Anzahl von erfüllten Punkten, wird das ganze dann zur "Waldorfpädagogik" erklärt. Ergebnis: die Qualitätsprüfung wird ein automatischer Vorgang, in dem Menschen nur mehr Erfüllungsgehilfen sind. Das eigentliche "Urteil" könnte am Ende auch ein Computer ausspucken. Der Vorgang suggeriert freilich eine "Objektivität", die er gar nicht hat. Er hat sie schon deshalb nicht, weil die angelegten Kriterien durchaus von einem Menschen stammten (dem Herrn Mosmann) und schon, als er sie entwickelte, nur so wirklichkeitsgemäß sein konnten, wie es gerade ihm möglich war. Anders war der Vorgang, als der Herr Mosmann den Eltern direkt eine von ihm erarbeitete Empfehlung aussprach. Da bestand in erster Linie ein Verhältnis zwischen den beteiligten Menschen. Ideen, Weltanschauungen, Normen waren zwar auch da, aber sie wurden von den Menschen nur angewendet, um in einer konkreten Lebenssituation Bewusstsein für die Realität zu entwickeln. Im Falle des automatischen Kriterienkataloges wurden hingegen die Ideen und Normen zu etwas, was die Menschen letzten Endes knechtet.

Also, das verstehe ich, glaube ich, schon: dass das Geistesleben aus den Individuen entspringen muss, nicht aus Ideen, Ideologien, Überschriften usw. Und auch die Bezeichnung "anthroposophisch" ist letztlich nur eine Überschrift. Man darf von ihr aus nicht das Leben des Krankenhauses oder der Schule bestimmen und normieren, aber man kann sie auf bestehende Krankenhäuser und Schulen anwenden bzw. nicht anwenden. Diese Anwendung oder Nicht-Anwendung ist ein Akt des urteilenden Individuums, das immer darauf achtgeben muss, dass in sein Urteilen nichts Automatisches ("immer wenn... dann...") hineinkommt.

...fortsetzung folgt...

Stefan Oertel hat gesagt…

...Fortsetzung...

Ich habe allerdings schon den Eindruck, dass auch im Geistesleben eine gewisse Erwartungshaltung (z.B. der Eltern) berechtigt ist. Nur: anders als bei einer Ware besteht kein Anspruch darauf, dass die Erwartung auch erfüllt wird. Wenn du dich an der freien Finanzierung eines Sinfonie-Orchesters beteiligst und die steigen plötzlich auf Performance-Kunst um, was tust du dann? Entweder finanzierst du sie weiter, weil du die Performances auch unterstützen magst oder du hörst damit auf. Du hast aber keinen Anspruch darauf, das früher geschenkte Geld zurückzubekommen oder sinfonische Musik zu bekommen. Wenn man für das geschenkte Geld etwas fordern könnte, wäre es ja keine Schenkung gewesen. Ebenso bei Schulen: ich erwarte schon, dass ich auch Waldorfpädagogik bekomme, wenn ich mein Kind an eine Waldorfschule schicke. Ich würde mich auch mit den Lehrern herumstreiten, wenn mir die betriebene Pädagogik gar zu seicht vorkäme. Aber einen rechtlichen Anspruch habe ich letzten Endes nicht. Wenn mir die Schule nicht passt und ich mit meinem Unmut dort nicht erhört werde, muss ich mein Kind auf eine andere Schule schicken. Wenn das viele Eltern tun, hat sich die Schule als Institution unter Umständen bald erledigt.

Leitlinien und Konzepte haben dann einen Sinn, wenn sie den Geist einer Einrichtung nicht regulieren wollen, sondern wenn sie ihn zum Ausdruck bringen. Dann kann nämlich jeder erkennen, woran er bei der entsprechenden Institution ist und seine Erwartungen (auf deren Erfüllung kein Anspruch besteht) regulieren.

Viele Grüße aus Mannheim
Stefan.

Johannes Mosmann hat gesagt…

Lieber Stefan,

Das kann ich nur unterstreichen! Ich wüsste nicht, wie ich das besser formulieren könnte, genau so sehe ich das auch! Höchstens könnte man noch hinzufügen, dass gerade in einem solchen zwischenmenschlichen Verhältnis erst Objektivität entstehen kann.

Klar ist dann aber, dass es keinen Bund der Waldorfschulen geben kann, der das Recht an dem Ausdruck freie Waldorfschule besitzt, höchstens einen, der freie Initiativen vertritt. Und klar ist auch, dass es kein "Anthromed"-Zertifikat geben kann, von dem sich scheinbar ableitet, dass ein Krankenhaus "anthroposophisch" ist. Auf dieses antiquierte Verhältnis zur Idee bezog sich meine Kritik an jenem Krankenhaus. Wobei ich die übelsten Folgen, die wir am eigenen Leib erleben mussten, ja bewusst gar nicht erwähnt habe. Jedenfalls kann man keine "anthroposophische" Einrichtung schaffen, indem man das gewöhnliche Verhältnis zur Idee einfach nachbaut, und dabei lediglich die Idee austauscht.

Und natürlich ergeben sich dann auch die konkreteren Fragen, die Du angedeutet hast - wie zum Beispiel der Umgang mit einem Kollegen, mit dem man eigentlich nicht zusammenarbeiten möchte. Aber im Grunde genommen hast Du ja selbst skizziert, wo die Antwort liegt. Was an Arbeitsrecht da ist, sind eben nun mal die gegenwärtigen Bedingungen, die mit der eigentlichen Sachfrage nichts zu tun haben. Da muss man, wie so oft, zum Bastler werden, um einen Weg zu finden, wie das sachgemäßer gehandhabt werden kann. Für mich entsteht das Problem aber viel früher: wie kommt es denn, dass da einer an der Schule ist, mit dem man kein gemeinsames Geistesleben teilt, den man vielleicht sogar gar nicht für fähig hält? Und das führt auf die Frage: Durch welchen Prozess tritt ein Mensch in eine Gemeinschaft ein? Wie finden sich Menschen? In dem man ein Lehrerseminar staatlich akkreditieren lässt, Waldorflehrer zertifiziert und dann Annoncen aufgibt? Oder wie? Anthroposophisch gesprochen: welche Strukturen können ausgebildete werden, um Schicksals-Begegnungen zu ermöglichen, anstatt diese zu verhindern? Und im Grunde genommen liegt die Antwort für mich in dem Prozess, den Du nun skizziert hast …

Herzliche Grüße
Johannes

Stefan Oertel hat gesagt…

Lieber Johannes,
bin eben aus dem Urlaub zurück, darum jetzt erst meine Reaktion.

Ich bin schon froh, dass der BdFWS dazumal dem Andreas Molau verboten hat, eine Waldorfschule aufzumachen. Der war zu der Zeit noch bei der NPD und meinte wohl, dass Anthroposophie irgendwie eine völkische Sache sei. Hätte er die Schule gegründet, wären Anthroposophie und Waldorfpädagogik in der öffentlichen Wahrnehmung dem völkischen Sektor wieder ein wenig näher gerückt worden. Da hätte der BdFWS oder irgendein Waldorflehrer Gegenerklärungen publizieren können, wie er wollte. Der rechtradikale Geruch wäre geblieben. Das hätte wohl auch daran gelegen, das bestimmte politisch korrekte Sektenjäger alles dafür getan hätten, durch verunklarendes Geschwätz die Differenzierung zwischen den vom BdFWS vertretenen und den NPD-nahen Schulen zu verwischen.

Stell dir vor, der BdFWS hätte die Gründung zugelassen! Alle hätten gefragt, warum er sie nicht untersagt! Dann hätte er was von freien Schulen und sozialer Dreigliederung erklärt und keiner hätte es verstanden, weil keiner gewohnt ist, dass, wenn man eine Erklärung bekommt, sich dabei auch was denken lässt... Die üblichen Gespenster hätten sich des Urteilens unserer lieben Journalisten bemächtigt und die unverstandene Erklärung des BdFWS wäre als Ausrede interpretiert worden. Ergebnis: die Anthroposophen finden den rechten Kram offenbar gar nicht so schlimm. Sie finden ihn eigentlich sogar ok. Und wenn sie ihn ok finden, finden sie ihn vielleicht sogar gut.

Wieviele Kompromisse muss man eingehen, um im gegenwärtigen System zu bestehen? Wäre die Untersagung des Namensgebrauchs wirklich nötig gewesen? Ich war, wie gesagt, froh drum, aber war er sachlich richtig? Du würdest wahrscheinlich sagen: nein, und nach allem, was du oben geschrieben hast, wüsste ich auch warum. Hätte man die entstehenden Unannehmlichkeiten ertragen müssen? Was wären die Konsequenzen gewesen? Oder hätte man den Namensgebrauch untersagen und gleichzeitig erklären sollen, dass man die Untersagung nur notgedrungen vornimmt, weil sie mit der Vorstellung eines freien Schulwesens nicht übereinstimmt, man aber in der gegenwärtigen öffentlichen Atmosphäre Denunziation befürchtet?

Und das ist ja immer die Frage: Wieviele Kompromisse geht man ein? Weiß man, dass es Kompromisse sind?

Die Mannheimer Hochschule für anthroposophische Pädagogik wollte sich auch mal staatlich akkreditieren lassen. Mir ist sowas aus den von dir genannten Gründen zuwider. Ich habe aber auch mit einigen Dozenten der Hochschule darüber geredet, die auch jeweils verschiedene Meinungen vertraten. Ich weiß bis heute nicht, wie ich den Akkreditierungsversuch wirklich beurteilen soll. Denn gewisse gute Gesichtspunkte sprechen tatsächlich auch dafür. Die Akkreditierung wiederspricht natürlich dem Ideal, aber welchen Weg geht man in der Realität?

Wichtig scheint mir vor allem, dass man weiß, was man tut und den Kompromiss auch offen und konfrontierend "Kompromiss" nennt, anstatt ihn zur guten Sachen umzudeuten.
Mit bestem Gruß
Stefan

Johannes Mosmann hat gesagt…

Lieber Stefan,

Du hast richtig vermutet: ich halte das Verbot der Molau-Schule für einen schwerwiegenden Fehler, welcher der Waldorfschulbewegung nachhaltig geschadet hat. Ich sehe auch nicht, weshalb die Waldorfschulen schlecht dagestanden haben würden, wenn sie keinen Verein hätten, der das Recht am Namen "Waldorfschule" besitzt, sondern wenn jeder sich auf Steiner beziehen darf, wie er es eben kann. Auch warum man dann irgendwie die Dreigliederung erklären müsste, begreife ich nicht. Im Gegenteil - ein echter Bund, das heisst eine Vertretung freier Schulen, wäre unmittelbar verständlich. Als solcher hätte er sich von Molau distanzieren können. Das wäre weitaus glaubwürdiger gewesen, als ein Verein, der das Recht am Namen geltend macht. So aber denkt jetzt jeder ganz richtig: Es liegt einfach in der Logik eines solchen Vereins, sein Namensrecht geltend zu machen. Wie viele Waldorfschulen wirklich rechts sind, weiß niemand.

Ganz anders würde die Sache ausgesehen haben, wenn man im Sinne Steiners hätte sagen können: jeder kann sich auf Steiner berufen, genau so, wie sich jeder auf irgendeine andere Persönlichkeit berufen kann. Es gibt keine allgemeinverbindliche Definition von "Steiner"-Schule. Wenn also jede einzelne Schule mit Stolz gesagt hätte: es gibt keine allgemeine Waldorf-Organisation. Wir, diese konkrete Schule hier, sind jedenfalls nicht rechts, dies und jenes verstehen wir als Anthroposophie, dies und jenes als Waldorfpädagogik - dann hätte man eine sachliche Diskussion über die konkrete Pädagogik führen können, und jeder, der Molaus Denken pauschal allen Schulen unterstellt hätte, wäre von jedem Gericht wegen Verleumdung schuldig gesprochen. So aber wird die Waldorfschulbewegung als eine sektenartige Organisation wahrgenommen. Man kann nun jede mögliche Interpretation allen Waldorschulen anlasten - es gibt ja einen Bund, der das Namensrecht, und also auch die Verantwortung hat. Das ist auch in der Tat die Art, wie gerade die von Dir erwähnten Sektenjäger auf den Rechthaber-Bund reagiert haben. Jetzt ist die Waldorfschulbewegung insgesamt verdächtig geworden, während man sich zuvor die Mühe machen musste, jeder einzelnen Schule ein Unrecht nachzuweisen.

Hinzu kommt noch ein ganz anderes, nämlich "internes" Problem, und diesbezüglich ist das Verbot der Molau-Schule wirklich eine Katastrophe. Wie viele Anthroposophen verstehen Steiner nämlich tatsächlich so wie Molau? Ob, und wenn ja, warum, und wenn nein, warum Steiner nicht Rassist gewesen ist - das ist eine äußerst schwierige Frage. Diese Diskussion hätte ich mir gewünscht, denn sie ist wirklich dringend - ich kenne einige Anthroposophen, die Steiner so verstehen wie Molau. Die können jetzt weiterwursteln, weil der Bund ja auf den guten Ton achtet. Ich erinnere mich z.B. mit einem gewissen Schrecken an meinen Beitrag zur 150 Jahresfeier für Rudolf Steiner. Ich versuchte, deutlich zu machen, inwiefern in Steiners vermeintlicher "Rassenlehre" gerade die konsequenteste Überwindung des Rassismus liegt. Zu meinem Entsetzen äußerten im anschließenden Gespräch einige der "anthroposophischen" Besucher ein solches Verständnis von Anthroposophie, das ich nur als plumpen Rassismus bezeichnen kann. Ich bin gegen irgendeine Form der Organisation, die einem anderen das Recht absprechen kann, sich irgendwie zu nennen, weil ich überzeugt bin, dass die Waldorfschulbewegung dringend das offene Gespräch braucht. Ich bin aus dem selben Grund gegen das Verbot der Molau-Schule, aus dem ich gegen das Verbot der NPD bin - wird die NPD verboten, ist das rechte Denken unsichtbar, und gewinnt im Halbdunkeln erst wirklich Einfluss.

Stefan Oertel hat gesagt…

Lieber Johannes,
im Grunde kann ich dir nicht widersprechen. Deine Argumente sind zu überzeugend. Ich habe die Molau-Geschichte damals eben so wie beschrieben rezipiert und beurteilt, weil ich kein Wissen von der Dreigliederung hatte. Davon hast du mich spätestens jetzt geheilt. =D

Gibt es denn deine Ausführungen zu Steiners sogenannter "Rassenlehre" irgendwo niedergeschrieben? Ich habe selbst viel an diesem Thema herumgeknabbert und da würde es mich interessieren, wie du gerade in Steiners "Rassenlehre" die "konsequenteste Überwindung des Rassismus" siehst.
Viele Grüße
Stefan

Johannes Mosmann hat gesagt…

Lieber Stefan,

Das freut mich. Teilweise muss aber auch ich mich korrigieren, bzw., das Obige präzisieren: Sobald man erstmal einen Bund hat, der das Namensrecht besitzt, MUSS man natürlich den Missbrauch des Namens verbieten. Mein Punkt ist eben, dass ich es erst gar nicht soweit hätte kommen lassen, dass man "Waldorf" zu einer Marke macht. Man wäre meines Erachtens gerade dadurch vor einer Rufschädigung sicher gewesen, dass man überhaupt nicht dafür die Verantwortung übernommen hätte, wie irgendein ein anderer Steiner interpretiert. Sofern irgendetwas Jugendgefährdendes in einer Schule vorgeht, kann sich ohnehin der Staat einmischen, dazu braucht es keinen Rechte-Bund. In dem Augenblick aber, wo man eine allgemein gültige Definition von "Waldorfpädagogik" zu besitzen glaubt und (scheinbar) rechtlich einfordern kann, wäre es falsch, die Nazi-Schule zu erlauben - weil man dann tatsächlich auch dafür verantwortlich ist! Das heisst, das Verbot der Molau-Schule war insofern richtig, als zu diesem Zeitpunkt ein "richtiges" Handeln gar nicht mehr möglich war.

Ich habe mit einem Freund, der lange im Vorstand des Bundes war, darüber gesprochen. Er meint, man sei tatsächlich aus obigen Gründen gespalten gewesen, den Schritt zur Namens-Rechthaberei zu machen. Wenn er erzählt, kann ich auch sehr gut die Gründe nachvollziehen, die letztendlich zu der falschen Entscheidung geführt haben. Es bleibt aber eine falsche Entscheidung, die sich bereits bitter rächt. Nur ein Beispiel für einen der Prozesse, die das nach sich gezogen hat: Ein Mitglied einer Schulgründungsinitiative sagte neulich zu mir: eigentlich brauchen wir gar kein Konzept, wir können einfach auf den Bund verweisen, da steht doch, was Waldorfpädagogik ist. Stell Dir das mal vor! Eine "freie" Schule, in welcher die Pädagogik nicht die Erkenntnis des Individuums ist, sondern als "Gerücht" kursiert, als Verweis auf irgendetwas Abgelegtes! Wo man den Wünschen eines "Gründungsberaters" entspricht - wie der Schüler, der sich den Erhalt der guten Note verspricht, indem er den Lehrer clever imitiert. Das ist die Perversion des Waldorf-Gedankens!

Herzliche Grüße
Johannes

Johannes Mosmann hat gesagt…

Zu der anderen Frage: Gerne wird behauptet, Steiner habe die soziale Dreigliederig von der Dreigliederung des Menschen abgeleitet. Steiner betont, dass er genau das nicht getan hat. Und er weist selbst darauf hin, wovon man die soziale Dreigliederung ableiten kann: aus dem, was er in "Die Mission einzelner Volksseelen" entwickelt. Das heisst, dieser ganze Prozess, den er in jenem Buch beschreibt, macht es seiner Ansicht nach notwendig, dass in Zukunft kein Volk mehr das andere unterdrücken kann, dass sich also Staat und Volkskultur trennen, und letztere der Freiheit des Individuums übergeben wird. Es folgt für ihn aus einem Verständnis des Zusammenwirkens der Volksselen konkret die Abschaffung des Nationalstaates, und das Verbot, Völkisches oder Kulturelles irgendwie rechtlich geltend machen zu können (auch das zur Frage des Bundes!). Vielmehr muss in einem Staat jedes Individuum diejenige Volkskultur ausbilden können, die es möchte, und staatsübergreifende Kulturverwaltungen ausbilden. Er bezieht das auch auf die deutsche Sprache, auf das Christentum und so weiter, und meint also das Gegenteil des als "Integrationsdebatte" bezeichneten primitiven Rassismus der Gegenwart. Wenn man Steiner folgt, kann es keine "offizielle" Sprache in Deutschland oder Ähnliches geben.

Aber das Thema ist so umfassend, dass ich hier kaum was Sinnvolles dazu sagen kann. Prinzipiell kann man sagen: diejenigen, die Steiner für einen Rassisten halten, tun das deshalb, weil sie nach Steiners Definition selbst Rassisten sind. Das gilt gerade auch für die Verfasser des Memorandums. Für Steiner ist die Rasse nämlich nicht der Mensch, sondern ein Wesen, mit dem der Mensch in Beziehung tritt. Genau so wenig, wie man den Wert eines Menschen an seinem Geschlecht festmachen kann, genau so wenig kann man ihn an Rassen- oder Volkszugehörigkeit festmachen. Volk, Rasse, Geschlecht - zu all dem tritt das Individuum in Beziehung. Das Individuum macht aber den Wert des Menschen aus. Deswegen kann Steiner ganz unbefangen sowohl Positives als auch Negatives über die Völker sagen, so wie man das auch über Mann und Frau sagen kann. Nach seiner Definition ist derjenige Rassist, der sich mit seiner Rasse identifiziert. Heute identifizieren sich leider wieder immer mehr Menschen mit ihrem "Deutsch-Sein" oder was auch immer, kommen also von ihrer Menschenwürde wieder runter auf ein mehr tierisches Dasein. Diese Volkstümmler sind selbstverständlich gekränkt, wo sich einer von Rasseneigenschaften distanziert, oder diese sogar kritisiert. Das heisst, man kann Steiner nur verstehen, wenn man selbst allen Rassismus ablegt. Verfolg das mal bei denjenigen "Anthroposophen", die sich lautstark von Steiners angeblichem "Rassismus" distanzieren müssen (und ihn damit zum Rassisten erklären): das sind immer dieselben Leute, deren Veröffentlichungen deutlich die Handschrift eines nicht überwundenen National-Instinktes zeigen. Noch gefährlicher ist, dass gleichzeitig manche wiederum Steiner deshalb verteidigen, weil sie ihn genau so verstehen wie seine "Kritiker", das heisst, weil auch sie noch ganz in ihrer Volksseele stecken, und sich durch positive Charakterisierungen dieser Volksseele von Seiten Steiners geschmeichelt fühlen.

Mein Vortrag dazu wird vielleicht nicht viel helfen, da er eine Ergänzung zum Vortrag von Sylvain Coiplet war, der hier wirklich der Fachmann ist. Trotzdem hier der Link darauf und auf manch Erhellendes von Coiplet:

http://www.dreigliederung.de/essays/2011-09-003.html
http://www.dreigliederung.de/essays/2008-04-001.html
http://www.dreigliederung.de/essays/2003-10-001.html
http://www.dreigliederung.de/sylvaincoiplet/

Stefan Oertel hat gesagt…

Lieber Johannes,
ja, die Existenz des BdFWS als quasi Namensschutz- und Lobby-Verein erforderte das Verbot des Namensgebrauchs im Falle Molau, andernfalls wäre man gefragt worden, warum man nichts unternähme usw. Deine Kritik setzte eben schon vorher, bei der Struktur und dem Selbstverständnis des Bundes an.

Was so ein "Gründungsberater" tut, weiß ich übrigens nicht, die Bezeichnung hört sich erstmal ganz harmlos an. Ich beobachte aber eine gewisse Kraftlosigkeit im intellektuellen und Gemüts-Leben der menschlichen Individuen unserer Zeit (und bin in der einen oder anderen Form wohl auch davon betroffen). Man geht nicht visionär und kraftvoll, mit Wärme und Innigkeit, also im guten Sinne radikal an die Dinge ran. Nein, man lässt sich die Dinge, die man tut, von Vater-ähnlichen Instanzen benoten, beurteilen, beglaubigen, attestieren und akkreditieren. Man will auf Nummer sicher gehen und irgendeiner Form genügen. Seelisch trennt man sich dadurch natürlich von den Dingen ab und das äußere gesellschaftliche Leben wird zu einer Art automatischem, formalem Prozess. - Ich nehme an, du denkst in diese oder eine ähnliche Richtung, wenn du mit Schülern vergleichst, die sich den Erhalt der guten Note versprechen.

Vielen Dank für die Links zum Rassismus-Thema, die werde ich mir zu Gemüte führen. Ich bin im Grunde zu ähnlichen Schlüssen gekommen, wie du sie oben andeutest. Die Rasse ist ein an den Menschen angehängtes Attribut, ebenso der Volkscharakter. Und es ist in einem gewissen Sinne sogar wesentlich, dass man die Möglichkeit hat, Aspekte solcher Attribute zu bewerten. Sonst endet man in einer abstrakten Gleichmacherei. Es gibt Dinge, die ich für Eigenarten des deutschen, des japanischen oder des italienischen Volksgeistes halte und die mir auf den Keks gehen. Andere Sachen finde ich gut. Warum auch nicht? Das Entscheidende ist ja, dass ich in der Lage bin, einem menschlichen Individuum einigermaßen unbefangen entgegenzutreten und es so zu nehmen,das ich es als individuelle Person nehme. Da muss mir dann auch nicht jede charakterliche Einzelheit der Person, ihrer Volks-Prägung usw. gefallen. Leider ist man (namentlich zum Bsp. bei den Verfassern besagten Memorandums) weit davon entfernt, so entspannt auf diese Dinge zu schauen. Im Gegenteil, mit einem gewissen gestressten Eifer pflegt man die hölzerne, politisch korrekte Geste. Ich muss aber zugeben, dass ich bei Steiner früher auch über manche lapsige Bemerkung zu Völkern und Rassen gestolpert bin. Ich bemühe mich auch, bei ihm nicht gleich automatisch alles zu entschuldigen. Seine Unbefangenheit tut aber ganz gut und hilft über eigene Hölzernheiten hinweg...

Viele Grüße, Stefan