30.09.2012

Thomas Brunner: Revolutionieren wir die Welt so, dass alles beim Alten bleibt?

"Wie können die Fehlentwicklungen, die durch die internationale Finanzkrise erschreckend zu Tage getreten sind, wieder ausgeglichen und zukünftig verhindert werden? Enormen Vermögensbündelungen stehen immense Staatsverschuldungen gegenüber. Da scheint es naheliegend, die Schieflage durch eine verstärkte staatliche Regulierung der Wirtschaft eindämmen zu wollen. Dass sich in den zu Tage getretenen Problemen im Kern aber vor allem die Verfasstheit des gegenwärtigen Geisteslebens ausspricht, und dass gerade eine Befreiung des Geisteslebens aus staatlicher Vormundschaft die wesentlichen Impulse frei setzen würde, das wird selten erwogen."

Thomas Brunner: Revolutionieren wir die Welt so, dass alles beim Alten bleibt?

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3 Kommentare:

Stefan Oertel hat gesagt…

Das Geistesleben ist ja nicht nur gefesselt, es lässt sich auch fesseln. Das heißt, die Menschen rufen nach der allesverwaltenden Staatsmacht, verschlafen das Leben im Materialismus usw. usf. Da ist wirkliche Trägheit vorhanden. In diesen individuellen Verschlafenheiten, Schwächen und Unwilligkeiten liegt ja letztlich der Urgrund der Probleme. Und dort, beim Individuum, liegt wohl auch die Lösung. Vom Individuum aus führt der Weg dann direkt ins freie Geistesleben. Das Geistesleben muss nicht von Außen befreit werden, es muss sich von Innen befreien. Wie habe ich in dieser Hinsicht den Autor des Textes zu verstehen? Muss der Staat etwa das Bildungswesen LOSLASSEN? Oder müssen nicht wir, die Menschen, den Willen entwickeln ihn aus dem Bildungswesen HERAUSZUDRÄNGEN? Und so in allen Gebieten des Geisteslebens. Der Staat verwaltet uns unser Geistesleben, weil wir diese Verwaltung allzu wenig selbst zu übernehmen gewillt sind! Zur wahren Selbstgestaltung und -verwaltung müssten wir natürlich eine wirkliche Empfindung unserer individuellen Geisteskraft und Freiheit erst einmal entwickeln. Das geht nicht im Schlaf und ich habe manchmal die Befürchtung, dass es bestimmte Erschütterungen brauchen wird, um uns aus dem Schlaf, in dem wir allzu gerne verbleiben, zu wecken.

Thomas Brunner hat gesagt…

Lieber Stefan Oertel,

besten Dank für Ihren Kommentar, dem ich im Kern voll zustimme. Ja, ein freies Geistesleben kann nicht "gegeben" werden, denn es gründet immer in der Selbstbefreiung des Geistes. Soziale Relevanz erhält diese Befreiung aber erst, wenn sie als reale (Erkenntnis-) Substanz im Zwischenmenschlichen auflebt. Deshalb fragt Rudolf Steiner nach einer "einheitlich wirkenden Geistigkeit" und impulsiert die "Begründung einer Menschengemeinschaft, welche die Freiheit und Selbstverwaltung des Erziehungs- und Schulwesens energisch erstrebt". (Siehe die Zitate im Aufsatz). Wenn in diesem Sinne ein sich befreiendes Geistesleben "Kreise zieht", dann wird auch der Boden eines assoziativen Wirtschaftlebens bereitet, ohne das eine Befreiung des Bildungswesens auch rechtlich sich kaum Geltung verschaffen kann. Diese Zusammenhänge zu skizzieren war der Sinn des Aufsatzes. Und die konkret genannten Initiativen waren zugleich als Einladung zur Mitarbeit gemeint.

Thomas Brunner

Stefan Oertel hat gesagt…

Lieber Thomas Brunner,
das erinnert mich an einen Vortrag Steiners, in dem er (ich gebe jetzt aus der Erinnerung und nur grob sinngemäß wieder) auf eine gewisse Weltfremdheit hinweist, die in der Art lag, in der innerhalb der Theosophischen Gesellschaft der "Bruderbund der Menschheit" angestrebt bzw. gefordert wurde. Steiner sagt, die Entzweiung der Menschen bleibt eben solange bestehen, als die einzelnen Menschen vor allen Dingen private Meinungen und Standpunkte vertreten, also in Urteilen leben, mit denen sie zwar ihre persönliche Eigenheit gegenüber den anderen aufrecht erhalten, aber nicht an die eigentliche, einheitliche Wirklichkeit der Welt herankommen. An die Wirklichkeit heran kommt nur ein sachgemäßes, wahrheitsgemäßes, den engen Persönlichkeitsstandpunkt verlassendes Denken bzw. Erkennen. Einem Menschen mit einem Beinbruch helfen, so sagt Steiner, nicht zehn Leute, die herumstehen und Mitleid haben oder abstrakte Ideale propagieren (vielleicht hilft es ja, gebrochene Beine einfach zu verbieten?), sondern derjenige, der die Sachkompetenz besitzt, das Bein WIRKLICH zu heilen. Das Denken muss also die Ebene des abstrakten Intellektualismus verlassen und sich einen Bezug zur Wirklichkeit wieder angewöhnen. Beim heutigen Menschen ist es zunächst einmal mehr intellektualistisch veranlagt und damit eher wirklichkeitsfremd. In dem Moment, wo wir nach dem denkenden Erkennen der einheitlichen Wirklichkeit wenigstens streben, nähern wir uns dem, was, wenn es von vielen gefunden würde, eine "einheitlich wirkende Geistigkeit" unter den Menschen überhaupt erst zur Erscheinung bringen würde. Dann entsteht der "Bruderbund der Menschheit" gewissermaßen von ganz alleine. Man muss ihn dann, so Steiner, nicht mehr in abstrakter Weise fordern, wie es die mitleidenden Gestalten tun, die um den Beinverletzten herumstehen und das Rechte nicht zu tun wissen (oder schlimmer noch das Falsche tun).

Das Aufzeigen der Existenz einer einheitlich wirkenden Geistigkeit und das Streben nach ihr ist aber in diesem Sinne eine eminent anthroposophische Aufgabe. Insofern kann ich auch die Krise vor allen Dingen als Konsequenz des Nichterfassens anthroposophischer bzw. anderer in diese Richtung weisender Erkenntnisse im allgemeinen Geistesleben begreifen. Es ist ja nicht wirklich eine Kleinigkeit, was mit dieser "einheitlich wirkenden Geistigkeit" und dem "Interesse für ein Erkenntnisleben um der Erkenntnis willen" gemeint ist. Das ist der Weg zur wirklichen Geisteswissenschaft, scheint mir.
Besten Gruß aus Mannheim,
Stefan Oertel