09.12.2022

Das Verhältnis von Anthroposophie und Waldorfpädagogik zum Rechtsradikalismus

„Es wäre doch schade, wenn diese Chinesen alle andern Rassen verdrängten“, bemerkte Albert Einstein in seinem Tagebuch. Bislang haben sich jedoch erst wenige Albert-Einstein-Gymnasien von ihrem Namensgeber distanziert. Warum auch? Niemand käme auf die Idee, diese Schulen orientierten sich nicht an Einsteins Leistungen auf dem Gebiet der Physik, sondern an seinen rassistischen Auslassungen. Der Bund der Freien Waldorfschulen dagegen scheint genötigt, sich unentwegt von Rudolf Steiner zu distanzieren. Aber weshalb?

Johannes Mosmann Das Verhältnis von Anthroposophie und Waldorfpädagogik zu Querdenken, Verschwörungstheorien, Wissenschaftsleugnung und Rechtsradikalismus

35 Kommentare:

Unknown hat gesagt…

Sauber analysiert.Die Gesellschaft zerlegt und filetiert sich zügig selbst.Es ist so offensichtlich was da schief läuft, das es kaum zu ertragen ist.
Schon lange ahnte ich, das Axel Burkart eben nicht in das Gruppenseelen,- Sektenhafte gedusel passt, er ist autonom, intelligent, versteht gut zu reden und prächtige Bilder sowie poitive gedanken für die Zukunft zu vermitteln, da wächst ja schon mal der Neid.....
EIgentlich ein Rittercshlag für Herrn Burkhart.

Anonym hat gesagt…

Sehr geehrter Herr Moosmann,
danke für Ihre sorgfältige Analyse des Ist-zustandes der Walddorfschulen und ihren Weg bis heute. Zudem deuten Sie auf die Schwäche der Gesellschaft, sich frei oder unfrei zu verhalten in anbtracht gesellschaftspolitischer Probleme, will sie sich selbst ein Urteil bilden, oder richtet sie sich unfrei an Vorgaben "von oben" Danke aber auch für das Aufzeigen nicht nur der kritischen Bewertung, sondern auch für das Angebot, wieder einmal einen neuen Weg zu gehen, der Weg des Diskurses und der gemeinsamen Solidarität. ist dies nicht auch der Weg, den Axel Burkart geht, ich denke nur an sein umfangreichen Youtube Beiträge, die überwiegend kostenlos anzusehen sind? Nochmals danke

Johannes Mosmann hat gesagt…

Lieber Anonym,

Den Beitrag von Axel Burkart würde ich nicht unbedingt darin sehen, dass viele seiner Videos kostenlos sind. Die Frage ist doch, was er für Inhalte bringt, ob nun kostenlos oder kostenpflichtig. Und da entsteht für mich nun das Problem, dass man durch Anschuldigung, Distanzierung und Abmahnung von Seiten des Bundes der Freien Waldorfschulen dazu genötigt wird, über diese Inhalte zu urteilen. Die einen glauben dem Bund und sagen nun, Burkart ist schlecht, die anderen finden ihn gut und glauben, der Bund liege falsch. Und auf diesem Niveau bewegt sich ja mittlerweile nahezu jeder öffentliche „Diskurs“. Das ist dann aber eben kein Diskurs, bei dem es um Erkenntnis der Sache geht, sondern beide Seiten ergehen sich tatsächlich nur in Expressionen ihrer subjektiven Befindlichkeiten. Deshalb reden wir permanent aneinander vorbei. Und deshalb habe ich in meinem Artikel versucht, die Aufmerksamkeit darauf zu lenken, dass man gar nichts glauben, sondern sich ein eigenes „Bild“ vom anderen machen soll. Ein Bild ist niemals schwarz oder weiß, sondern enthält viele Abstufungen, und sogar Farben. Deshalb stören wirklichkeitsgemäße Bilder natürlich, sobald man lieber Politik machen, bzw. „Krieg“ auf die eine oder andere Art führen möchte.

Konkret nehme ich bei Axel Burkart zum Beispiel wahr, dass er aus tiefstem Herzen für eine Besinnung der Menschheit auf ihre geistigen Aufgaben eintritt. Und das ist unendlich wichtig, denn eine Gemeinschaft, der im Grunde genommen das ganze Kulturleben zu einem verfeinerten Konsum gerät, wird niemals menschenwürdige Formen annehmen. In dieser Beziehung kann ich viele Aussagen Burkarts wertschätzen. Auf der anderen Seite finde ich seinen Begriff vom „Volksgeist“ äußerst problematisch, und lehne entschieden ab, was er z.B. über Migration sagt. Er betont zwar immer wieder, er meine das nicht „national“, aber es wird dann eben doch national, wenn er nämlich einerseits am deutschen Idealismus anknüpft, und auf der anderen Seite Zuwanderung als Bedrohung oder gar „Waffe“ bezeichnet. Wenn man das weiterdenkt, kommt man dazu, die „deutsche Kultur“ durch Erhaltung der biologischen Reinheit eines „deutschen“ Volkes schützen zu wollen. Ich behaupte nicht, dass Burkart selbst diesen Schluss zieht. Doch wenn er es anders meint, müsste er wenigstens wissen, dass Zuhörer solche Schlüsse ziehen könnten, und dem entgegenwirken.

Fairer Weise muss man aber auch sagen, dass ein Großteil der Deutschen fürchtet, unter einer „Massenimmigration“ würden „unsere“ Werte leiden. Ich selbst denke radikal in die entgegengesetzte Richtung: Ich finde, dass es keinerlei Regulierung an den Grenzen geben sollte, und es nichts „Deutsches“ im biologischen Sinn oder im Sinne einer „Verhältnismäßigkeit“ der Bevölkerungszusammensetzung zu erhalten gibt. Ich erlebe Immigration ausschließlich als Bereicherung, auch in „Massen“. Und wenn mir irgendjemand sagt, Verschwörer wollten die „deutsche Kultur“ durch Massenzuwanderung überfremden, dann antworte ich: Das Ziel dieser Verschwörer wird dann wohl gewesen sein, Dich zum Nationalisten zu machen, denn erst Deine Reaktion auf die Zuwanderung ist schlecht, nicht die Zuwanderung selbst.

Damit vertrete ich aber eine Minderheitenmeinung in Deutschland. Umso tragischer finde ich es, dass man sich über solche Fragen nicht offen austauschen kann, weil man immer „für“ oder „gegen“ jemanden sein soll. Indem der Bund zwischen Menschen polarisiert, statt über Gedanken zu streiten, verhindert er jegliche Erkenntnis-Akte – und fördert deshalb die unkontrollierte Wucherung dessen, was er zu bekämpfen vorgibt.

Herzliche Grüße
Johannes Mosmann

Unknown hat gesagt…

Hallo Herr Mosmann,
Ja, das sind interessante Gedanken.Am tragischsten empfinde ich, das sich 90% ( in meiner Umgebung) der Menschen gar keine Gedanken um die gegenwärtige Situation machen.
Die Völkerbewegungen bedeuten ja nicht nur "Immigration" sondern eben auch Auswanderung mit entsprechenden Folgen für das zum Teil entvölkerte Land....
Der Verfall der Kultur und der Bildungsnotstand machen vor den Toren von Türen ohne rechte Winkel nicht Halt.Ich habe mein ganzes Leben, seit dem 17.Lebensjahr die Anthroposophie gesucht und erst mit über 40 begriffen das sie sicherlich nicht in den üblichen anthroposophischen Kreisen anzutreffen ist.

Und um es mit Goethe zu halten: und was nicht umstritten ist, das ist nicht interessant

Problematisch ist doch, wenn nun Herr Burkart beginnt, sich mit einer Reihe Zitaten rechtfertigen zu müssen - da ist bereits eine Absurdität eingetreten die nichts mit Diskurs oder Gespräch zu tun hat, das ist eigentlich unter seiner Würde, zumindest in diesem Rahmen.

Der Kampf aller gegen alle scheint sich anzubahnen und für mich sieht es so aus als ob es sich nun so entwickeln wird, das die Anthroposophie sich noch einmal verabschieden wird.Zumindest wird sie sich nicht im deutschsprachigen Raum nicht als einen tragende Geisteswissenschaft etablieren,sondern vielleicht in wenigen kleinen eher verborgenen Geistesströmungen gepflegt werden.
Ich habe in anthroposophischen Zusammenhängen vor allem eines erlebt: Erstickungsgefahr und Meinungsdiktatur.Das ist unmittelbar atmosphärisch zu spüren und passt äusserst gut in die jetzige Zeit.Das Niveau auch Ihrer Beiträge Herr Mosmann ist da eine eher seltenere Ausnahme.

ThWi hat gesagt…

Vielen Dank für den Artikel! Auch der nachgetragene Kommentar verdeutlicht.

Ich selbst hatte vor Jahren Menschen kennengelernt, die sich als Anthroposophen verstanden und noch viel weiter gingen als wohl Hr. Burkart. Also solche, die ganz tief in den "Kanninchenbau" abgestiegen waren und tatsächlich nicht nur ein ganz bestimmtes Thema der Geschichtsschreibung wie ein "Gralsmysterium" behandelten, sondern auch in weitestgehender Übereinstimmung mit anderen Mobilisierungsthemen des Rechtsextremismus standen. Nach dem Bekanntwerden, Einleben und der Trennung aus diesem Millieu, sah ich mich aber nicht veranlasst rechtliche Schritte einzuleiten. Denn das wesentliche war für mich, dass durch das Sich-vertraut-machen mit radikalen Ansichten, in besonderer Weise die Urteilskraft herausgefordert wird. Dabei habe ich auch gelernt, dass man Menschen nicht "überzeugen" kann und etwaige Verbote nur einer weiteren Radikalisierung, als Selbstbestätigung für die empfundenen "Ungeheuerlichkeiten", dienen.

Sie schreiben oben in dem Kommentar: „Ich behaupte nicht, dass Burkart selbst diesen Schluss zieht [auf nationalistische Weise den Begriff "Volksgeist" auszulegen, T.W.]. Doch wenn er es anders meint, müsste er wenigstens wissen, dass Zuhörer solche Schlüsse ziehen könnten, und dem entgegenwirken.“ Hier möchte ich daran erinnern, dass Burkart auch im "Compact-Magazin" inserierte, um auf sich aufmerksam zu machen. In diesem Magazin gibt es ja unzweideutig eine ganz bestimmte Stoßrichtung. Aber auch das ist für mich in Ordnung und sollte er machen dürfen.

Interessant fande ich, wie Sie "Das Grundproblem der Wissensgesellschaft" beschrieben. Wie wir „mit unserer Urteilskraft von der Sach- auf die Beziehungsebene wechseln“ sollten ist aber ein schwerer Brocken, wenn man es wirklich tagtäglich praktizieren wollte.

Schönen Gruß
Thorsten Wittwer

Rainer H hat gesagt…

Ich kann dem Autor nicht zustimmen. Ich beobachte bereits seit vielen Jahren eine tendenzielle Offenheit eines größeren Teiles der anthrop. Bewegung für Verschwörungsideologien und rechte Gedanken/Autoren (Vor etwa 20 Jahren musste etwa ich dem Vorstand des HH RST Hauses erläutern, dass G.Bondarew, der in diesem Haus Seminare abhält, in der ersten Auflage seines Buches den Holocaust leugnet).

Die "rechte Tendenz" zeigt sich u.a. in einem pauschalen Negativurteil über die sog "Mainstreammedien", eine grundsätzliche Kritik an der/den NATO/USA, damit verbunden, trotz Angriffskrieg, eine gewisse Solidarität mit Putins Russland (Ravagli, K.Ehlers, "Europäer", u.a.) sehr viel Zustimmung für Autoren wie D.Ganser, sowie einem Festhalten an der Idee, dass "Mitteleuropa" (vor allem Deutschland) eine führende Rolle in der Geistesentwicklung der Menschheit einzunehmen hat. Und vieles mehr.

Obige Aspekte beobachtet sehr interessiert und wohlwollend die extreme Rechte: Es gab nicht nur mehrere positive Beiträge zur Anthroposophie in der Zeitschrift "Compact", die rechtsintellektuelle Zeitschrift "Sezession" hat Anfang des Jahres einen prorussischen Artikel von K.Swassjan veröffentlicht. Diese und ähnliche Dinge nehmen zu.

Die jüngsten Beiträge der Erziehungskunst fand ich daher sehr wichtig; ebenso erfreulich, dass man sich von einem radikalen Verschwörungsideologen wie Burkart distanziert.

Johannes Mosmann hat gesagt…

Lieber Rainer,

Vielen Dank für Ihre Kritik. Mir scheint jedoch, dass Sie die Kernaussage meines Artikels missverstanden, oder ihn (vielleicht wegen seiner Länge) nicht in Gänze gelesen haben. Eine Offenheit eines Teils der Anthroposophischen Bewegung für rechte Gedanken und Verschwörungsideologen beobachte ich auch. Eben deshalb macht mir das Vorgehen des Bundes Freier Waldorfschulen große Sorgen, weil es m.E. rechte Gedanken und Verschwörungsideologen fördert. Davon handelt mein Artikel.

Sie schreiben: „Die "rechte Tendenz" zeigt sich u.a. in einem pauschalen Negativurteil über die sog "Mainstreammedien", eine grundsätzliche Kritik an der/den NATO/USA, damit verbunden, trotz Angriffskrieg, eine gewisse Solidarität mit Putins Russland (Ravagli, K.Ehlers, "Europäer", u.a.) sehr viel Zustimmung für Autoren wie D.Ganser, sowie einem Festhalten an der Idee, dass "Mitteleuropa" (vor allem Deutschland) eine führende Rolle in der Geistesentwicklung der Menschheit einzunehmen hat.“

Das behaupten Sie einfach so, und erklären nicht, inwiefern genau ein „Negativurteil über Mainstream-Medien“ oder „grundsätzliche Kritik an NATO und USA“ eine rechte Gesinnung beweisen. Genau dieses Prinzip, dem Ihre „Logik“ hier folgt, meine ich. Indem Sie kritische Meinungen zum Zeitgeschehen und deren Verfasser pauschal einem rechten Milieu zuschreiben, wirken Sie an der Konstruktion dieses Milieus mit, bescheren ihm Zulauf und sorgen für seine Radikalisierung. In der Hoffnung, dass der eine oder andere Leser diesen Mechanismus durchschaut und zu einem entsprechend verantwortungsvollen Handeln inspiriert wird, schrieb ich den Essay.

Mit freundlichen Grüßen
Johannes Mosmann

Rainer H hat gesagt…

Ich wollte nicht grundsätzlich "kritische Zeitungen...pauschal einem rechten Milieu zuschreiben" - in meinem kurzen Kommentar habe ich gerade mal "Europäer" genannt, "Sezession" und "Compact". Die sind seit langem dem rechten oder rechtsextremen Umfeld einzuordnen (Man könnte noch "Agora" ergänzen, eine mit K. Swassjan verbundene Zeitschrift aus der Schweiz).

Eine Schwierigkeit in diesen Debatten besteht natürlich in der Unschärfe und Wandelbarkeit bestimmter Begrifflichkeiten, wie "rechts", "rechtsextrem", "konservativ", reaktionär" usw. (Ähnlich "Verschwörungstheorie, V.ideologie"). Es gibt hier eine sehr große Grauzone.

Das "rechte Denken" zeigt sich heute nicht mehr primär in einem vulgären oder gewaltbereiten Nationalismus oder Rassismus, vielmehr in einer grundsätzlichen Ablehnung des Staates und der Demokratie - damit verbunden eine tendenzielle Demokratiefeindlichkeit, ähnlich, wie man es jetzt bei den Reichsbürgern entdeckt. Ausserdem eine (in anthrop. Kreisen sehr verbreitete) Ablehnung des "materialistischen" Westens, vor allem den USA, verbunden mit einer, wie ich finde, unsäglich naiven romantisch-spirituellen Idealisierung des Ostens/Russlands.

Sie haben recht, das erkläre ich nicht, inwieweit diese Dinge "eine rechte Gesinnung beweisen". Ich beobachte bestimmte Entwicklungen der anthrop. Bewegung auch in den sozialen Medien (etwa Facebook) wo einzelne (auch "Prominente") anthrop. orientierte Menschen, sich ganz offen mit Putin solidarisieren und auch sonst gerne offen für allerlei Verschwörungsideologien sind. Seit Corona und dem Auftreten der sog. "Querdenkerbewegung" haben sich bestimmte Entwicklungen zugespitzt.

Schauen Sie sich ruhig einmal die Website von "Compact" an (Herausgegeben von dem Rechtsextremen Jürgen Elsässer) - da finden Sie einen guten Überblick über die "Lieblingsthemen" der Neuen Rechten: "Great Reset", Impfen, "Raus aus der NATO", Russland im tapferen Widerstand, die Mission Deutschlands, die wahren Schuldigen am 1 und 2 WK usw. Interessanterweise (oder traurigerweise) eine allmählich größer werdende Schnittmenge mit der Anthroposophie.

Freundliche Grüße, Rainer Herzog

























Johannes Mosmann hat gesagt…

Lieber Rainer Herzog,

Staatsfeindlichkeit ist anarchistisch, USA-Kritik klassisch links. Wenn Sie den Begriff „rechts“ vom völkisch-biologistischen trennen, hat er keinen Inhalt mehr. Ich weiß, dass das aktuell als State of the Art gilt, die „Wandlungsfähigkeit“ der Rechten zu „durchschauen“. Doch abgesehen von den Klamotten wandelt sich nicht das „rechte Milieu“, sondern der Begriff „rechts“. Das wird jetzt das Wort für alles irgendwie „Ungute“. Und ich glaube, Sie haben recht damit, dass sich alles mögliche Ungute miteinander assoziiert – aber zugleich eben auch, dass Sie sich über die Natur dieses Unguten täuschen, indem Sie es „rechts“ nennen.

Die Problematik, auf die ich in meinem Artikel vorsichtig hinzuweisen suche, besteht darin, dass die Genese dieses Unguten und die allmähliche Verschmelzung seiner Teile nicht von Ihnen und Ihrer Haltung zu trennen ist. Und besonders förderlich ist der Umstand, dass Sie das alles „rechts“ nennen.

Ich greife mal irgendeine der von Ihnen genannten unguten Positionen heraus. Zum Beispiel: „Ablehnung der materialistischen USA.“ Fällt Ihnen wirklich kein Grund ein, weshalb man die USA auch „ablehnen“ oder sie als materialistisch sehen könnte? Stellen Sie sich einen Menschen vor, der solche Gründe vor Augen hat. Setzen Sie hypothetisch voraus, seine Kritik ist sachlich begründet. Für ihn wenigstens ist es so evident, wie für Sie etwas anderes. Dieser Mensch ist dann, wie jeder von uns, wenn er kritisch denkt, in einer sehr gefährlichen Seelenlage. Er muss nämlich aufpassen, dass er sich nicht empört. Dann würde aus der Kritik eine Gegnerschaft werden, die letztendlich nur ihm selbst, der Steigerung seines Selbst-Gefühls diente. Und dieser Mensch, der liest jetzt bei Ihnen: „Die Ablehnung der USA ist das Kennzeichen einer rechten Gesinnung.“

In den allermeisten Fällen schlägt da schon die sachlich begründete Kritik um in etwas Ungutes. Dann geht die Geschichte aber weiter. In Folge Ihrer Einordnung bekommt er böse Briefe, wird komisch angeguckt. Das ganze kocht weiter in ihm. Dann wird er von einem Vortrag ausgeladen, usw. Sind die also alle auf Seiten der USA? Und weiter: alle anderen, die gerade erst das kritische Denken entdecken, die erfahren jetzt: USA-Kritik gibts bei den Rechten. Die öffnen sich jetzt nach Rechts. Und die echten Rechten wiederum, die finden den Kritiker immer sympathischer. Und so wächst das Ganze zusammen, und wird größer und größer. Was sie aber alle eint, und was die Flamme des Hasses immer weiter entfacht, das ist: dass Sie diesen Menschen diffamierten, als er die Wahrheit sagte. Und dass Sie das weiter tun.

Aus diesem Gebräu taucht irgendwann wieder das völkisch-biologistische, der wirkliche Rassismus auf, das fürchte ich auch. Aber das Gebräu wird eben von denen gekocht, denen jetzt das Wort „rechts“ laufend aus dem Mund fällt. Und die funktionieren ja gar nicht anders, die empören sich auch … das gehört für mich also beides zusammen, das sind die zwei Teile derselben Maschine.

Mit freundlichen Grüßen
Johannes Mosmann

Rainer H hat gesagt…

Lieber Herr Mosmann,

eine Schwierigkeit unserer Debatte besteht wahrscheinlich auch darin, dass wir beide einen vollständig anderen Erfahrungshintergrund haben, was das Thema "Umgang mit "rechten Tendenzen" in der anthrop. Szene" betrifft. Ich stimme Ihnen sogar zu, wenn Sie den Begriff "rechts" wie in Ihrem letzten Kommentar kritisch und gründlich hinterfragen.

Zu Ihrem Beispiel: Natürlich ist jemand nicht "rechts", wenn er/sie USA-kritisch ist. Es ist selbstverständlich richtig und sinnvoll, die USA für ihre rücksichtslose Interventionspolitik in den letzten Jahrzehnten zu kritisieren, das mache ich auch. Aber die Kritik an den USA (und der NATO) ist EIN Aspekt, den man in der "rechten Szene" (siehe "Compact")regelmäßig wiederfindet. Kommen dann noch Dinge hinzu, wie die Warnung vor einem "Deep State", oder "Great Reset", das Misstrauen gegen die "Mainstreammedien", die Gewohnheit "Demokratie" ausschließlich in Anführungszeichen zu setzen, die Betonung auf die besondere Aufgabe Mitteleuropas/Deutschlands, usw. mag eine gewisse Offenheit für "rechte Tendenzen" gegeben sein. Wie gesagt, wir reden hier über einen größeren Bereich von schwer auslotbaren Grauzonen.

Nebenbei: Interessanterweise ist ein größerer Teil der heutigen "Rechten" ziemlich begeistert von S. Wagenknecht (Compact, Titelausgabe "Die beste Kanzlerin") auch in anthrop. Kreisen.

Ich beobachte entsprechende Entwicklungen in der anthrop. Szene bereits seit vielen Jahren und sehe, dass das zunimmt. Besonders schräge/perfide finde ich es, wenn ein bekannter Autor wie etwa Ravagli diverse Bücher über die PhdF schreibt, oder ein 580 Seiten Buch über Christus, um dann auf seiner Website regelmäßig verschwörungsideologische Texte (oder mal eine ganze Rede von Putin) veröffentlicht. Geschweige denn der zum Teil offen rechtsnationalistische Irrsinn, den man monatlich im anthroposophischen "Europäer" findet. Was meinen Sie, wie oft man da lesen kann, dass die "anglo-amerikanische Hochfinanz", nicht Hitler, Schuld am 2 WK hat?

Alles im Namen Rudolf Steiners, willkürlich belegt mit irgendeinem Zitat aus der GA.

Der wahre und irreversible Angriff gegen die Anthroposophie geschieht m.E. durch die Anthroposophen, nicht durch die Böhmermanns und Zanders dieser Welt.

Ich glaube, ein entscheidender Aspekt, der diese Entwicklung in den letzten Jahren radikal vorangetrieben hat, ist die Zunahme des "anthroposophischen Ganserismus". Ganser ist nicht "rechts", aber die auffallend hohe und verbreitete positive Rezeption seiner Verschwörungsideologien in der anthrop. Szene hat m.E. entschieden dazu beigetragen, dass parallel oder ergänzend dazu eine zunehmende Offenheit für "rechte Tendenzen" entsteht (Siehe zu Ganser M.Butter "Nichts ist, wie es scheint" S.83 - 93).

Was meinen Sie, wie reagiert ein größerer Teil der anthrop. Bewegung angesichts der fürchterlichen Kriege der letzten Jahre, etwa in Syrien oder in der Ukraine? Mit der Frage "Cui Bono", wer steckt dahinter, wem nützt das, usw. Wenn die stets bösen und selbstverständlich sämtlich staatlich gelenkten Mainstreammedien (wobei zwischen BILD und ZEIT nicht unterschieden wird) behaupten, dass die Russen die ukrainische Bevölkerung gezielt erfrieren lassen wollen - woher will man das wissen, Propaganda des Westens, usw. Da ist sie dann spätestens wieder, die gemeinsame und langsam sich vergrößernde Schnittmenge zwischen den Anthroposophen und den Rechten.

Es ist lohnenswert, sich diese von mir geschilderten Dinge bei den anthrop. orientierten Menschen oder Gruppen auf Facebook anzugucken: Ein Posting darüber, dass in der Ukraine vor allem Neonazis bekämpft werden und ein Posting später "7 Wege, den Christus zu erfahren".

Freundliche Grüße, Rainer Herzog

Unknown hat gesagt…

Lieber Herr ThWi,
es beruhigt mich, das nicht nur ich beim Lesen der Antworten von Herrn Herzog eine deutliche Irritation erlebe, während ich bei den Ausführungen von Herrn Mosmann Inhalt mit Sinn, auch wenn ich ihn nicht immer sofort verstehe, erlebe.
Aber insgesamt ist es für mich als praktisch veranlagtem Menschen doch so:
Diese Art Menschen einzuteilen können wirklich nur Intellektuelle oder sehr oberflächlich denkende vornehmen: es ist heute in etwa so hirnrissig von rechts und links zu sprechen wie von hinten und vorne oder oben und unten, denn was wir später in die geistige Welt mitnehmen sind weniger unsere Meinungen oder Überzeugungen sondern ob wir einen Weg ins Leben und zu den Menschen gefunden haben, ob wir letztlich in die Tat gekommen sind.Ich schreibe das am Krankenbett meiner Mutter, bei der ich in den letzten Stunden sein darf während sich der Rest der Familie in Luft aufgelöst hat, nicht in der Lage zu erleben das jetzt nicht kluge Worte zählen, sondern ob jemand bereit ist, einen Tee zu kochen oder eine Wärmflasche zu reichen.Ob man einfach da ist, das Dasein aushält, und das rechte versucht zu tun.
Es hat sich (in meiner Biografie zumindest-) bewährt, nicht darauf zu schauen ob sich jemand zu diesem oder jenem Club zugehörig empfindet oder was er zur Weltlage zu sagen hat- sondern ob ich mit diesem Menschen einen Tisch geschickt eine Treppe herauf-, oder herunter tragen kann, ob er bereit ist, mit unseren Kindergartenkindern einen Tag im Garten arbeitend zu verbringen.
Alles andere ist für mich, wenngleich ich zu allen oben genannten Themen deutliche Postitionen vertreten kann, unerheblich geworden.Alle gestandenen Handwerker haben eine deutliche Wahrnehmung für das, was derzeit geschieht und in den letzten 2 Jahren geschah.Natürlich gibt es wenige Menschen, die sich wirklich erlauben können ihre Gedanken vorzutragen und die wir hören sollen, dazu rechne ich unbedingt Axel Burkart oder Herrn Mosmann aber z.B. auch Michael Lüders.Wenn ich bei Herrn Herzog den Satz lese "eine gewisse Solidarität mit Russland"- die damit abgestraft wird- denke ich nur, na, das entspricht ja der heutigen Rechtsverdrehung - es darf also dann konsequent gedacht im Rechtsleben keine Verteidiger mehr geben, und jeder der nach Verständnis für das Handeln des anderen sucht wird als extrem oben oder extrem unten bezeichnet.Nun, so stehen wir tatsächlich als Menschen heute da.Man kann versuchen sich zu retten wenn man es als Realsatire empfindet, und vereinzelt entbehrt es nicht einer gewissen Komik.Aber es ist ungeheuer tragisch.Wahrend Corona haben einzelne Persönlichkeiten ( meist ausserhalb der anthrop.Bewegung) den Irrsinn wirklich zu spüren gewagt, und sind gereift.Die Bewussteinsseele geht eben ihre eigenen Wege.Deswegen versuche ich mich gar nicht mehr in Diskussionen verwickeln zu lassen: Tische tragen oder umgraben ist mein Weg um herauszufinden wie ich dem Menschen begegnen kann.

Rainer H hat gesagt…

Lieber "Unknown/Unbekannt",

da Sie mich in Ihrem letzten Kommentar mehrmals erwähnen, erlaube ich mir, Ihnen zu antworten.

Kann es sein, dass Sie da ein paar Dinge verwechseln? Es geht hier ja in dieser Debatte um eine bestimmte eingegrenzte, wenn auch komplexe Thematik. Gewissermassen eine "Sachebene" in der wir uns begegnen.

Ob Herr Mosmann, Sie oder ich "einen Weg ins Leben und zu den Menschen gefunden haben", wäre vielleicht zu beantworten als Kommentar zu einem Beitrag "Anthroposophie und gelebter Alltag" oder ähnliches.

Björn Höcke hat 4 Kinder. Ich kann mir gut vorstellen, dass er ein liebevoller und engagierter Vater ist und vielleicht auch ein Mann ist, der "einen Tisch geschickt die Treppe rauf und runter tragen kann". Finde ich persönlich aber eher uninteressant. Mich interessieren seine Ideen und wie diese Ideen in unserer Welt wirken.

Natürlich muss man sich immer wieder kritisch hinterfragen, wenn es darum geht "Menschen einzuteilen", ein Schubladendenken anzuwenden, andere, in diesem Falle, als "rechts" einzuordnen, usw. Darum habe ich in meinem (ich glaube vorletzten) Kommentar auf eben diese Bedenklichkeit hingewiesen, auf die Wandelbarkeit der Begriffe wie "rechts" "reaktionär" usw.

Wenn man aber darum weiß, kann man versuchen, vorsichtig und/oder direkt bestimmte wiederkehrende Muster aufzuzeigen - in diesem Fall eben rechte "Tendenzen" in der anthrop. Bewegung. Darüber rede ich, nicht über Neonazis.

"Es darf also dann konsequent gedacht im Rechtsleben keine Verteidiger mehr geben" - Nein, dass habe ich nicht ansatzweise mit meiner Kritik an der anthroposophischen Solidarität mit Russland gemeint. Ich fand es nur auffällig und interessant, dass seit dem 24.02.22 ein nicht geringer Teil der anthrop. Bewegung scheinbar die "Zeitgeschichtlichen Betrachtungen" Steiners nicht nur so verinnerlicht hat und 1:1 in unsere Gegenwart überträgt, sondern weiterhin an einem romantisch-ideellen Bild von einem "spirituellen Russland" festhält.

Die Deutschen als Träger des Ich, die Russen als Träger des Geistselbst? Oder so ähnlich? Und wenn man alle 2 Wochen von russischen Foltergefängnissen und Massengräbern liest und in diesen Tagen mitverfolgen darf, wie die ukrainische Bevölkerung gezielt erfrieren soll - dann ist das alles staatlich gelenkte "Mainstreampropaganda"?

Mir kann es ja egal sein, wenn solche, wie ich finde, weltfremden und zynischen Gedanken verbreitet werden. Das Schlimme ist, dass solches im Namen Rudolf Steiners geschieht. Nicht wenige nehmen dann noch gerne seine Ideen des "ethischen Individualismus" in Anspruch und wähnen, dann besonders frei zu denken, wenn man gerade mal statt SPIEGEL die Nachdenkseiten liest.

Ich habe oben geschrieben, dass ich diese Entwicklungen als Angriffe gegen die Anthroposophie erlebe. Da ich mit dem Lebenswerk Rudolf Steiners seit 1987 zutiefst verbunden bin, mein entsprechendes Engagement.

Unknown hat gesagt…

Lieber Herr Mosmann,
ich fand ihre Analyse zu der Frage, wie wir überhaupt heute zu einer Urteilsfähigkeit kommen können sehr treffend, nämlich indem wir mit unserer Urteilskraft von der Sach- auf die Beziehungsebene wechseln und uns selbst auf den Weg zum anderen Menschen machen, indem wir die bequemen medialen und staatlichen Zuschreibungen zurückweisen und uns die Mühe machen zu durchschauen, wie diese Zuschreibungen zustandekommne.

Im zweiten Teil musste ich allerdings feststellen, dass Sie Ihre eigene Argumentation nicht ernst nehmen und vermutlich ungeprüft das mediale Framing gegen Ryke Geerd Hamer und die AFD sehr pauschal übernehmen. Für Ryke Geerd Hamer endete es in Rufmord und Berufsverbot, Instrumente, die auch heute wieder gegen impfkritische Ärzte eingesesetzt werden und zur Vernichtung bürgerlicher Existenzen führen. Mehr und mehr kluge Köpfe verlassen Deutschland, weil ihnen hier in unwürdigster Weise nachgestellt wird. Ich darf Sie daran erinntern, dass auch Nostradamus von der Inquisition verfolgt wurde. Die Zeiten heute sind sehr ähnlich.

Es ist heute mehr denn je dringend notwendig zu durchschauen, dass die Systemmedien für Regierungspropaganda missbraucht werden und dass Begriffe wie "Antisemit", "Verschwörungstheoretiker", "Rechts", "Reichsbürger" usw. als politische Kampfbegriffe ins Feld geführt werden und gezielt dafür verwendet werden, Menschen die Ehre abzuschneiden, sie mundtot zu machen, sie rufzumorden und somit längst überfällige Debatten lächerlich zu machen, abzubiegen, abzubrechen, kurz zu unterdrücken.

Maximilian Eder, der als angeblichen "Reichsbürger" verhaftet wurde, war im Ahrtal um zu helfen und hat vor Ort mitbekommen, was dort abgeht, außerdem hat er vor laufender Kamera darüber gesprochen, dass Funktionsträger, die in der Corona-Zeit in unverantwortlicher Weise ihr Amt missbraucht haben (das waren nicht wenige und sie tun es noch immer), strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden müssen.

Viele Leute aus der sog. "rechten Ecke" stellen sich als überaus wache und intelligente Zeitgenossen heraus, vor denen unser Politestablishment zu Recht Angst hat, weil diese ihm offen ins Gesicht sagen, dass der Kaiser nackt ist.

Vor diesem Hintergrund kann ich nur davor warnen, mediale Aussagen ungeprüft durchzureichen. Machen Sie in diesen ernsten Zeiten ernst mit Ihrer eigene Argumentation, wie wir urteilsfähig werden können.

Mit freundlichen Grüßen
eine Anthroposophin aus München

Johannes Mosmann hat gesagt…

Liebe "Anthroposophin aus München",



Vielen Dank für Ihre freundliche Kritik. Sie schließen offenbar aus dem Umstand, dass Andersdenkende mit Kampfbegriffen wie "Rechts" und Ähnlichem diffamiert, wirtschaftlich ruiniert oder entrechtet werden: Also unterliegt auch Herr Mosmann dem Framing, weil er ja selbst beispielsweise Ryke Geerd Hamer als "Antisemiten" und die AfD als "rechtsnational" bezeichnet. Nein, liebe "Anthroposophin aus München" – mit dieser Logik unterliegen Sie selbst genau dem Framing, das Sie kritisieren. Sie ergreifen pauschal Partei für die Betroffenen, und verteilen dabei alles und jedes, auch mich, auf die entsprechenden Gruppen. Dafür danke ich Ihnen, denn damit beweisen Sie eine Kernthese meines Artikels – genau so funktioniert Polarisierung.



Ich möchte richtigstellen: Selbst wenn alle Medien den Hamer als Menschenfreund lobpreisten, sähe ich in ihm immernoch einen Antisemiten. Und selbst wenn die AfD sich die soziale Dreigliederung auf die Fahnen schriebe und von 90% der Bevölkerung gewählt werden würde, übersähe ich niemals den dahinterliegenden Impuls. Die AfD kann ihr primitives, völkisch-nationales und vom Hass getriebenes Gedankengut m.E. in ihren besten Momenten als spießigen Konservatismus maskieren, aber niemals ganz verbergen. Und für dieses Urteil brauche ich die Medien nicht! Das ist mein persönliches, individuelles Urteil, dass ich mir durch eigene Beobachtungen, beispielsweise entsprechender Plenarsitzungen, gebildet habe. Und falls auch das unklar sein sollte: Die in meinem Urteil verwendeten Begriffsbestimmungen für „völkisch“, „rechts“, „antisemitisch“ etc. sind selbstverständlich ebenfalls meine eigenen.



Was meinen Standpunkt bezüglich der AfD von dem der Mainstream-Medien unterscheidet, ist nicht, dass ich die AfD grundsätzlich anders beurteile, sondern dass ich a) den Medien eine Mitschuld am Wachstum der AfD gebe b) ich in Folge der Polarisierung zwangsläufig auch viel Gutes und Richtiges sehe, das sich mit dem schlechten Impuls der AfD verbinden MUSS, weil es gar keine anderen Wege mehr findet, und dass ich c) einen AfD-Wähler auch dann nicht diffamieren, ausgrenzen, wirtschaftlich schädigen will etc., falls mein obiges Urteil zutreffen sollte.



Unrecht ist Unrecht – auch dann, wenn der Betroffene geistig gesehen mein Gegner ist. Ich habe in meinem Artikel kritisiert, dass der Bund der freien Waldorfschulen Axel Burkart auf juristischem Weg daran zu hindern sucht, den Namen „Rudolf Steiner“ für seine Bildungsstätte zu verwenden; dass der Bund die AG dazu bringt, Burkart auszuladen; dass er ohne jegliche gedankliche Herleitung oder Begründung überall verbreitet, Burkart sei „rechts“ etc. … ich erlebe das als Unrecht. Wenn Menschen aus dem Bund dagegen genug Mumm hätten, in eine offene Gegnerschaft auf geistigem Feld zu Burkart zu treten, statt sich derart feige hinter „Rechten“ und Polarisierungs-Techniken zu verstecken, dann hätte ich gar nichts einzuwenden gehabt. Außer meine Meinung in der Sache natürlich. Über diese habe ich ja bewusst gar nichts geschrieben – weil das Handeln des Bundes mit der Sachfrage gar nichts zu tun hat. Das ist ja genau mein Punkt.



Das Gegenteil von Framing und Polarisierung ist nicht Friede-Freude-Eierkuchen, sondern Streit, oder wie man heute sagt: der Diskurs. Wenn beispielsweise in der Erziehungskunst ein Artikel erschiene, in dem Autor gründlich erläuterte, inwiefern er Burkarts Begriff vom „Volksgeist“ für falsch hält, was seiner Ansicht nach positiv unter „Volk“ verstanden werden müsste, etc ... Wenn die „Stellungnahme“ also eine wäre! Oder anders gesagt: Wenn Urteile endlich wieder sachlich begründet und persönlich verantwortet würden! Dann ließe sich die Polarisierung überwinden. Sobald man nämlich auf eine Sache eingeht, ist sie niemals schwarz oder weiß. Und deshalb verlöre dann übrigens auch die AfD an Zustimmung …


Herzliche Grüße, 
Johannes Mosmann

Christian B hat gesagt…

Vielen Dank, Herr Mosmann, für den reichhaltigen Blogbeitrag.

Den Tenor teile ich. Nicht auf alles kann ich eingehen. Kurz möchte ich erwähnen, dass mich die Pandemie-Situation dazu geführt hat, mich (immer) stärker mit Rudolf Steiner zu beschäftigen. Mit ein Grund: Von Anfang stand mir die geistig-seelische Dimension vor Augen; diese Dimension wurdw und wird öffentlich ausgeblendet. Daher habe ich mich nur kurz über zunehmende mediale Attacken gegen die Anthrosophie gewundert. Mein Empfinden: Es sind starke Kräfte am Werk , die die geistig-seelische Fortentwicklung verhindern wollen. In der anthroposophischen Szene kenne ich mich nicht oder nur sehr wenig aus, dennoch denke ich, dass ein solches Agieren, wie Sie es beschreiben, wenig produktiv ist.

Ihr letzter Absatz erinnert sehr stark an Carl Schmitt und seine Bestimmung des Politischen als Freund-/Feind-Unterscheidung. Die Linke wirft dies der Rechten vor, ohne zu merken, dass sie - wie unbewusst? Noch? - selbst danach agiert.

Mit der sozialen Dreigliederung befasse ich mich erst seit kurzem. Die Grundformel Steiners - also die Zuordnung der einzelnen Bereiche je einem Motto der französischen Revolution - finde ich auf Anhieb einleuchtend. Nicht klar ist mir, wie Steiner das Politische bestimmt - das Streben nach Macht um der Macht willen. Oder anders: Wie bringt "man" die Politik dazu, sich an Grenzen zu halten und nicht übergriffig auf das Geistes- oder Wirtschaftsleben einzuwirken? Derzeit meine ich gerade die gegenläufige Tendenz zu beobachten, wie sich gerade in der Pandemie gezeigt hat.

Johannes Mosmann hat gesagt…

Lieber Christian B,

danke für Ihre wohlwollende Rückmeldung! Steiner verwendet den Begriff „Politik“ in der Regel negativ, sofern er „Politik“ nämlich immer dort entstehen sieht, wo sich geistig-kulturelle oder wirtschaftliche Interessen des Rechtsstaates bedienen. Damit meint er aber nicht die Interessen irgendwelcher Eliten, sondern die natürlichen, berechtigten Interessen jedes Einzelnen. Wir wählen zum Beispiel die Partei, von der wir die Einführung eines Mindestlohns erhoffen. Dabei übersehen wir, dass ein Mindestlohn ja voraussetzt, dass der Staat zuerst das Eigentumsrecht der „Arbeitsplatzbesitzer“ schützt. Nur weil er das tut, entsteht auf der anderen Seite überhaupt die Frage nach einer staatlichen Regelung der Entlohnung. Somit wird der Staat zum Schauplatz eines Verteilungskampfes. Deshalb meint Steiner, alle „Politik“ sei in Wahrheit nur die Fortsetzung alter Eroberungs- und Machtverhältnisse, und fordert demgegenüber einen „reinen Rechtsstaat“.

In England entstand der Parlamentarismus als Gegenkraft zur Monarchie, aber eben aus den Grundbesitzverhältnissen heraus. Die Grundbesitzer bemächtigen sich schließlich des Staatsapparates, insbesondere auch um die „Außenpolitik“ zur Erschließung von Absatzmärkten zu instrumentalisieren. Dieser „Liberalismus“ öffnete seine Strukturen dann allmählich auch für das arbeitende Volk, hat aber eben den staatlich konservierten Eigentumsbegriff zu Vorraussetzung. Als Gegenbewegung kommen dann Sozialismus und Faschismus auf, und als Reaktion auf diese beiden (so erklären es die Vordenker der sozialen Marktwirtschaft selbst) schließlich Neoliberalismus und soziale Marktwirtschaft. Der Staat ist damit zum Sammelbecken für divergierender Interessenlagen geworden – und eine Demokratie im eigentlichen Sinn des Wortes in weite Ferne gerückt.

Das Fatale ist aber, dass man unter der Voraussetzung der gegebenen Verstrickung natürlich nicht fordern kann, der Arbeitnehmer solle auf den Lohnkampf verzichten. Das ist vielmehr eine Notwendigkeit. Dennoch treibt der Arbeitnehmer dadurch selbst die immer komplizierter werdende Verstrickung voran. Dasselbe geschieht auf geistig-kulturellem Gebiet. Ihre Frage ist also sehr berechtigt: Wie bringt "man" die Politik dazu, sich an Grenzen zu halten und nicht übergriffig auf das Geistes- oder Wirtschaftsleben einzuwirken? Rudolf Steiners Antwort beginnt mit einem radikalen Perspektivwechsel: ich muss zuerst selbst damit aufhören, den Staat als Anwalt für meine Interessen, so berechtigt sie auch sein mögen, zu betrachten. Verstehen Arbeiter und Konsumenten beispielsweise, dass das gesamte Wirtschaftsleben in ihren wechselseitigen Beziehungen stattfindet, können sie dieses unmittelbar ergreifen (Assoziationen) und einen gerechten Ausgleich OHNE den Umweg über den Staat bewirken. Damit ziehen sie die ökonomischen Interessen aus dem Staat heraus. Dasselbe gilt für die geistig-kulturellen Beziehungen. Dann bleibt in ihrer Mitte der reine Rechtsstaat übrig.

Demokratie ist für Rudolf Steiner also das PRODUKT eines sich auf sich selbst besinnenden Wirtschaftslebens einerseits, und eines sich auf sich selbst besinnenden Geisteslebens andererseits. Die Politik kann nur etwas Negatives beitragen: indem sie darauf verzichtet, über Dinge zu entscheiden, die, wenn sie darüber entscheidet, in Widerspruch zur Demokratie stehen. Der Dreigliederung steht also vor allem im Weg, dass wir alle heute unsere Wünsche dem Staat zurufen, und somit unsere Handlungsräume immer weiter einengen. Deshalb beteilige ich mich übrigens auch nicht an Diskussionen über Verschwörungstheorien: Zwar halte ich nicht alle Verschwörungstheorien für völlig abwegig. Aber die Perspektive, die man beim Spekulieren über Verschwörungen einnimmt, verstellt den Blick auf die eigene Verantwortung und auf die eigenen Handlungsmöglichkeiten.
Herzliche Grüße, Johannes Mosmann

Anonym hat gesagt…

Lieber Herr Mosmann,

wie gesagt, mit den Gedanken sozialer Dreigliederung mache ich mich erst vertraut; im Studium habe ich mich sehr mit Verfassungsrechtslehre beschäftigt (aber auch mit Luhmann und Habermas). Von daher scheint mir politische Macht auf dem Einsatz und der wirksamen Androhung mit physischer Gewalt zu beruhen. Diese Definition trifft natürlich auch auf kriminelle Vereinigungen zu, und das staatstheoretische Denken kreist ja um die Frage, wie man legitime Gewalt von illegitimer Gewalt unterscheiden kann. Daraus folgt aber bereits, dass die politischen Mittel - Androhung von Gewalt - in sich bereits limitiert sind; mit diesen Mitteln lassen sich weder wirtschaftliche Prosperität noch geistige Erkenntnisse generieren noch Kunstwerke schaffen (allenfalls als Nebeneffekt wie in der Erzählsituation von 1001 Nacht - oder gemäß dem etwas zynischen Bonmot, dass Zensur den Stil verfeinert). Von daher komme ich zu ähnlichen Ergebnissen wie Sie.

Umso verwunderlicher ist es, dass sich die Staatstätigkeit derzeit mehr und mehr ausweitet - und dies vom deutschen Bürger auch noch goutiert wird. Geistig hat diese Situation etwas Erstickendes. Man könnte sagen, Freiheit ist der Atem des Geistes; und wenn man annimmt, dass Geistiges auf Physisches einzuwirken vermag, könnte man eine Zunahme von Atemwegserkrankungen vorhersagen.

Anonym hat gesagt…

Daran anknüpfend:

Die Stellungnahmen anthroposophischer Gesellschaften lese ich vor dem Hintergrund, dass derzeit eben ein "linksliberaler" Mainstream dominiert und sozialen Institutionen, meine ich, per se ein Selbsterhaltungs-Trieb innewohnt, der sie in ein konformistisch-opportunistisches Verhalten treibt.

Ihren Kommentar verstehe ich so - und einen anderen Weg sehe ich auch nicht -, dass Impulse hin zu einem freien Geistesleben und brüderlichen Wirtschaftsleben nicht von sozialen Institutionen zu erwarten sind, sondern von einem Bewusstseinswandel, der von Einzelnen ausgeht (die sich neu - jenseits des Staates - assoziieren). Den Deutschen scheint hingegen eine Staatsgläubigkeit eingefleischt, es dominiert geradezu eine Staatsmetaphysik, an der solche geistigen Impulse abprallen. Aber ist das deutsche Volk nach Steiner nicht dazu ausersehen, die soziale Dreigliederung zu verwirklichen? So habe ich den von Ihnen erwähnten Axel Burkart in einem seiner Videos verstanden.

Das wirft Fragen nach Volk und Volksgeist auf. Was ist ein Volk, wie ist ein deutsches Volk, falls überhaupt, definiert? Stellt man solche Fragen, landet man schnell "rechts", weil "rechts" überhaupt solche Fragen gestellt werden, wenn einen die Antworten auch nicht befriedigen (müssen). Sofern Sie den Volksbegriff Burkarts kritisieren, würde mich Ihr Volksbegriff interessieren, auch weil ich hierzu keine festen Anschauungen habe. Den Versuchen, ein Volk biologistisch - neuerdings über den Genpool - zu definieren, kann ich auch nichts abgewinnen; das ist in meinen Augen eine Fiktion (von rechts wird auch "nur" eine relative ethnische Homogenität und ein ethnisch-kultureller Volksbegriff propagiert); daneben sind für mich Volk und Nationalismus (Nationalstaat) zwei Paar Schuhe; es besteht keine Natur-Notwendigkeit, dass ein Volk sich nationalstaatlich organisiert. Aber einen sozialen Organismus. Ein Organismus hat aber, um es von der Umwelt abzuheben, Grenzen. Um auf Ihren Kommentar zur Migration zurückzukommen: Muss er diese Grenzen nicht schützen und Migration regulieren?

Mit herzlichen Grüßen
Christian Backes




Johannes Mosmann hat gesagt…

Lieber Christian B / Anonym,

Ich würde Macht etwas anders definieren. Ein Gesetz, das nicht durchgesetzt werden kann, ist keines. Jedes Gesetz impliziert daher Gewalt. Demokratie bedeutet nichts anderes als die Koppelung der Gewaltausübung an das Rechtsempfinden jedes mündigen Erwachsenen. Wenn wir wissen, welche Entscheidungen demokratisch getroffen werden können, haben wir damit zugleich die Grenzen legitimer Gewaltausübung definiert. Dehnen wir den demokratischen Abstimmungsprozess also auf Geistesleben und Wirtschaftsleben aus, ist das gleichbedeutend mit illegitimer Gewaltausübung. Zugleich aber entkoppelt sich die Gewalt von der Demokratie, da Letztere eben nur scheinbar auf Bereiche jenseits reiner Rechtsfragen ausgedehnt werden kann. Diesen Zusammenhang im Einzelnen zu durchschauen, halte ich für ganz wesentlich – und habe diesem Thema deshalb u.a. meine Artikelserie „Die erweiterte Demokratie“ gewidmet. Vielleicht ist das ja interessant für Sie, z.B.:

Der blinde Fleck der Gesellschaftskritik
https://diedrei.org/files/media/hefte/2019/Heft11_2019/04-Mosmann-Demokratie-1-DD_1911.pdf

Das Geheimnis der Macht
https://diedrei.org/files/media/hefte/2020/Heft6-2020/05-Mosmann-Demokratie-V-DD_2006.pdf

Dass das nicht bemerkt wird, liegt m.E. teilweise am naturwissenschaftlichen Denken, genauer gesagt am Nominalismus – man glaubt, die Idee (Programm, Gesetz etc.) „regele“ die soziale Wirklichkeit. Insofern ist das ein Zeitphänomen. Aber andererseits sehe ich auch, dass die Staatsgläubigkeit typisch deutsch ist – man kann vom deutschen Idealismus eben entweder zum ethischen Individualismus kommen, oder zum Totalitarismus. Hier liegt übrigens auch eines meiner Probleme mit Burkarts Deutung des „Deutschen“– Rudolf Steiner beschreibt ihn als einen zwiespältigen, äußerst problematischen Charakter, während er Burkart zur Lichtgestalt gerät.

Ihre letzte Frage markiert exakt den Grund, weshalb das Gerede von „Volksgeistern“ auch dann nationalistisch sein kann, wenn man Volk als „Kulturvolk“ verstanden wissen will. Ein Volk ist laut Rudolf Steiner nämlich gerade kein Organismus!

Physisch gesehen ist der soziale Organismus die Erde, nämlich die Weltwirtschaft. Es ist deshalb auch völlig ausgeschlossen, dass die Deutschen die soziale Dreigliederung realisieren. Die Deutschen, oder der „deutsche Volksgeist“, das ist ein Farbtupfer im schillernden Farbenspektrum eines einzelnen Glieds des sozialen Organismus, nämlich des Geistes- und Kulturlebens. Natürlich kann man darüber nachdenken, was gerade dieser Farbtupfer zur Vollendung des Menschheits-Bildes beitragen kann, und sicher wäre es an der Zeit, das bewusst erfassen zu können. Nur: Alles, was zumindest ich bislang von einer deutscher Kulturaufgabe zu verstehen glaube, wird nicht im mindestens davon beeinträchtigt, dass sich auf dem selben Grund und Boden andere Kulturen ausleben. Ganz im Gegenteil. Schlimmstenfalls bewirkt eine „Massenzuwanderung“, dass sich die geistig gelähmten Spießer, die sich „Deutsche“ nennen und entsprechende Fähnchen zur WM raushängen, beim Nachdenken über den Ruhestand gestört fühlen und deshalb zu pöbeln beginnen. Zuwanderung sehe ich also nur insofern als Problem, als sie dumpfe Nationalgefühle wecken kann. Realpolitisch muss man also schon aus diesem Grund, weil eben auch die Stumpfheit vieler Deutscher eine Realität ist, die Zuwanderung begrenzen. Ein Ideal kann das für mich aber trotzdem nicht sein. Bestenfalls nämlich „opfern“ die Menschen, wie Steiner sagt, ihre jeweilige Kultur dem anderen hin, damit jeder im Dialog mit dem anderen über den eigenen Volksgeist hinauswachsen kann. Das wünsche ich mir für Deutschland.
Herzliche Grüße, Johannes Mosmann

Johannes Mosmann hat gesagt…

"Gerade wenn wir uns in die innere Natur und Wesenheit der Völker der Erde vertiefen, finden wir diese individuelle Wesenheit so verschieden, daß wir uns sagen müssen: Das umfassend Menschliche kommt eigentlich durch keinen einzelnen Menschen, nicht durch den Angehörigen eines einzelnen Volkes zum Vorschein, es kommt nur durch die ganze Menschheit zum Vorschein. Und willst du, Mensch, dasjenige erkennen, was du als ganzer Mensch bist, so durchwandere die Eigentümlichkeiten der einzelnen Völker der Erde. Nimm alles auf, was du selber nicht haben kannst, dann erst wirst du zum ganzen Menschen. Du hast ihn doch in dir; werde nur aufmerksam auf das, was in deinem Innern ist. Was bei dem anderen Offenbarung ist, hast du nicht; du mußt es bei ihm suchen. Aber du hast das Bedürfnis danach. Das fühlst du, und du weißt, wenn du bei dem anderen das findest, was dem anderen gerade das Große, das ihm Eigentümliche ist, dann wirkt das ganz einfach auf dich ein. Dann ist es ein Bedürfnis, daß du ohne das, was du von ihm empfängst, nicht sein kannst, weil es deinem inneren geistig-seelischen Begehren entspricht. Die Anlage zu einem ganzen Menschen ist schon in jedem, aber die Erfüllung müssen wir finden, indem wir die Eigentümlichkeiten des Wesens der verschiedenen Völker, wie sie über die Erde ausgebreitet sind, durchwandeln.“ Rudolf Steiner

Rainer H hat gesagt…

Man muss O.Rautenberg bestimmt nicht in allem zustimmen (vgl auch den Info3 Artikel über ihn von AK Dehmelt) - seine jüngsten Recherchen über rechte und verschwörungsideologische Tendenzen bei dem "Dreigliederer" R.Schnurre und in der anthrop. Bewegung halte ich aber für lesenswert (Am Ende des Artikels geht er auf J.Mosmann ein)
https://anthroposophie.blog/2023/01/25/soziale-dreigliederung-eine-blaupause-fur-den-staatsstreich/

ThWi hat gesagt…

Lieber Herr Herzog,

in welchen Punkten "muss" man denn O. Rautenberg zustimmen und wo nicht? Sind Sie mit der faktentreue seiner Ausführungen zufrieden oder mit seiner Deutung?
Hier ist ja kein Twitter, wo von vornherein die verkürzte Kommunikation Zuspitzungen verlangt.

Interessiert Sie die wissenschaftliche Arbeitsweise von Rautenberg, der ja schließlich die Öffentlichkeit aufklären will, also wie er methodisch gestützt zu seinen Urteilen kommt, oder beliebt Ihnen vielmehr dass assoziative Gewusel, was eine wunderbare Projektionsfläche für tiefsitzende Emotionen sein kann?

Durch was erreichte dieser Text also bei Ihnen das Prädikat "lesenswert"?

Lieben Gruß
Thorsten Wittwer

Rainer H hat gesagt…

Lieber Herr Wittwer,
da ich mich in den letzten Jahren vermehrt mit rechten und verschwörungsideologischen Tendenzen innerhalb der anthrop. Bewegung befasse, freut es mich, wenn Rautenberg entsprechende Dinge zutage fördert. Ich kannte R.Schnurre bisher nicht, sein "Aufruf zum Zusammenhalt" wurde in anthrop. FB Gruppen kontrovers diskutiert, ich wusste nicht, dass das von ihm war.

Ein Zitat wie

„Wir werden von den uns Regierenden mit raffiniertesten Mitteln gezwungen, die uns unterjochenden westlichen Siegermächte als unsere Retter und Beschützer anzuerkennen. In dieser «psychologischen Kriegsführung» gegen unser Volk, ist die Wahrheit das erste Opfer geworden.“ (Rainer Schnurre, „Notwendige Meditationen zu Deutschlands Gegenwart und nächster Zukunft„, 20. Juli 2022)

könnte ebenso gut von Björn Höcke kommen.Diesen Umstand empfinde ich als mindestens "lesenswert". Die Gegnerschaft von Rautenberg zur Anthroposophie sehe ich als bedenklich, darum schrieb ich, dass man ihm nicht in allem zustimmen muss.

Viele Grüße, Rainer Herzog

ThWi hat gesagt…

Lieber Herr Herzog,

danke für Ihr Antwortschreiben. Ich habe meine Anmerkungen auch nicht geschrieben, wie das vielleicht meist vermutet und als ganz selbstverständlich angenommen wird, um jemandem "beizuspringen". Mir ging es nur um die Frage der "Urteilsbildung", eine Frage bzw. Problematik, die sich durch den ursprünglichen Text von J. Mosmann und auch durch seine weiter erläuternden Kommentare hier in diesem Blog zieht.

Sie sind nun näher auf R. Schnurre eingegangen, den Sie noch nicht kannten, wie Sie schreiben, auf den Rautenberg kurz eingeht und ein Zitat aus einem seiner Texte bringt. Haben Sie diesen Ursprungstext von R. Schnurre gelesen und können dieses Zitat kontextualisieren? (Sie müssen sich nicht genötigt fühlen zu antworten, es ist nur ganz allgemein von mir gemeint). Und das ist es dann, was mich "stößt und irritiert": in irgendwelchen Facebook-Gruppen wird etwas "kontrovers diskutiert", man weiß aber noch nicht einmal um wen es ursprünglich geht. Dann wird man wohl auch unterstellen können, dass man sich mit den Grundlagen (nämlich dem Originalbeitrag) gar nicht auseinandergesetzt hat; und das obwohl die Quellen ganz leicht auffindbar sind.
Wenn es nur noch um die "Verbreitung von Verbreitungen" geht, gestützt darauf, dass man assoziativ auf der Suche nach Bezeichnungen und verknüpfbaren Wortfeldern ist, dann ist dies im Kern keine andere Vorgehensweise, wie sie auch in verschwörungsideologischen Erzählungen gang und gebe ist. Denn da hängt auch "alles mit allem zusammen". Wer der betreffende ist, der etwas äußert, was er meint etc. spielt dann gar keine Rolle mehr, er ist dadurch "erkannt" wenn man ihn in eine homogen vorgestellte Gruppe einordnet.

Lieben Gruß
Thorsten Wittwer
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Johannes Mosmann hat gesagt…

Lieber Thorsten Wittwer,

Danke für Ihre Klarstellungen. Der Text von Rautenberg ist insofern toll, als er in seiner Machart völlig transparent ist. Aber selbstverständlich entgeht das jenen, die in „Informationen“ vor allem Bestätigung der eigenen Meinung suchen.

Das Prinzip funktioniert eben in beide Richtungen: Schlagworte zu „Bill Gates“ und „Corona-System“ bewegen den Klick-Finger vieler „Corona-Leugner“, ohne dass sich das Gehirn dazwischenschaltet und Text und Sachverhalt kritisch prüft. Ebenso fühlt sich mancher sofort angetrieben, wenn nur irgendjemand über „Esoteriker“ und „Querdenker“ schimpft. Für den Effekt reicht es völlig aus aus, dass sich die wichtigsten Worte zusammen in einem Aufsatz finden; logische oder sachliche Verknüpfungen zwischen ihnen sind entbehrlich. Das macht m.E. sogar den eigentlichen Unterhaltungswert aus: Die „freie Assoziation“ der Gedanken ist offen für die eigene „Haltung“ des Lesers und lässt ihn deshalb schneller die Maustaste drücken.

Die wichtigsten Abnehmer unsachlicher Anthroposophie-Kritik sind interessanterweise die Anthroposophen selbst! Davon leben ihre Dauer-Kritiker. Wieviele Bücher hätte beispielsweise Helmut Zander ohne sein anthroposophisches Publikum verkauft? Umgekehrt fällt auf, dass selbsternannte „Experten“ wie Oliver Rautenberg, Ansgar Martins oder Helmut Zander nur ein einziges Thema haben, mit dem sie Öffentlichkeit heischen können – die Anthroposophie. Sie sind regelrecht an die Anthroposophie gekettet. Ob Sachlichkeit auf Grundlage einer missionarisch betriebenen Gegnerschaft überhaupt denkbar ist, sei einmal dahingestellt. Die seltsame Beziehung zwischen Anthroposophen und ihren Stamm-Kritikern ist es jedenfalls wert, ihrerseits selbst einmal Gegenstand einer psychologischen Forschungsarbeit zu werden.

Mich selbst stört an der „Kritik“ von Fanatikern eigentlich immer nur, dass sie in der Regel unerträglich langweilig ist. Es gibt doch handfeste Gründe, Rudolf Steiner für einen Spinner zu halten! Man könnte durchaus sachlich begründet und logisch richtig entwickeln, weshalb z.B. die Annahme „höherer Welten“ falsch ist. Diejenigen, die das können und auch tun, halten sich aber eben nicht lebenslang mit der Anthroposophie auf. Den Lebenslangen dagegen fehlt offenbar die nötige intellektuelle Distanz zu ihrem auserkorenen „Feind“. An die Stelle einer inhaltlichen Kritik tritt bei ihnen deshalb die ewige Wiederkehr der immer gleichen Verleumdungen. Das ist dann auch ein Schicksal.

Auch Rautenbergs Aufsatz über „Soziale Dreigliederung“ ist doch erstmal nur langweilig. Was hat er denn selbst zur Gesellschaftsordnung, etwa zum Verhältnis von Staat und Wirtschaft zu sagen? Nichts. Die Hauptsache an diesem Quark ist der Titel: „Soziale Dreigliederung“ – eine Blaupause für den Staatsstreich?" Das ist doch der Punkt, den Rautenberg machen möchte. Wenn sich nämlich die öffentliche Angst vor "Reichsbürgern" weiter zuspitzt, und sofern "Esoterik" mit dieser Bedrohung assoziiert wird, dann hat das negative Folgen für Anthroposophen – Wahrheit hin, Wahrheit her. Und Oliver Rautenberg selbst hat dann gute Chancen, in eine Talk-Show eingeladen zu werden – ungeachtet seines mehr als zweifelhaften Experten-Status.

Wir werden nie erfahren, was genau am Ansatz einer sozialen Dreigliederung falsch ist, weil hier an Stelle einer inhaltliche Kritik der billige Versuch tritt, auf der Welle einer vermuteten Stimmungslage zu schwimmen. Seriösen Medien fällt das sicher auf. Die Co-Abhängigkeit der lebenslangen Wadenbeißer führt nicht unbedingt dazu, dass man sie gerne als "Experten" befragen möchte. Die selbsternannten „Experten“ finden aber immer dann Gehör, wenn sie von irrationalen Stimmungslagen, an denen die Kritisierten leider selbst mitwirken, profitieren können.

Herzliche Grüße
Johannes Mosmann

Stefan Oertel hat gesagt…

Lieber Johannes Mosmann,
ich bin dir sehr dankbar für deine vielen Artikel über die soziale Dreigliederung! Für mich sind sie nach wie vor die besten, die es zum Thema gibt.

Dieser hier berührt mich insofern besonders, weil er die Probleme des BdFWS und seines Vorstands thematisiert, die mich als Waldorfpädagogen sehr beschäftigen. Der Vorstand hat es ja fertig gebracht zu erklären, dass "Corona-Leugnung" an den Waldorfschulen keinen Platz habe. Er nennt sie in einem Atemzug mit "Rassismus", "Antisemitismus" usw. Gleich danach distanziert er sich von "Simplifizierungen" – gemeint sind damit "simplifizierende" Weltanschauungen. Nachdem man also die "Corona-Leugnung" simplifizierend und Schlagwort-gebrauchend in irgendein Frame verschubladet hat, distanziert man sich - vom "Simplifizieren"! Aua! Und leider ist nicht nur an dieser Stelle die Herangehensweise so, dass ich mich frage, ob die Damen und Herren jemals ernsthaft ein Stückchen Anthroposophie vertieft haben. Was vielleicht geholfen hätte, aber selbstverständlich kein Garant dafür ist, dass man nicht selber vollbringt, was man an andern kritisiert. Nach wie vor lese ich in der Erziehungskunst auch immer wieder "lustige" Darstellungen zur sozialen Dreigliederung, die mit dem, was du darstellst, so herzlich wenig zu tun haben. Der Bund hat jemanden wie Herrn Mosmann eigentlich ziemlich nahe, aber er lässt andere Leute Artikel für die Erziehungskunst schreiben. Man ist – meiner Auffassung nach – beim Bund nicht in der Lage, die richtigen Urteile zu fällen.

Was mich zu der Frage führt, wie diese Konstruktion "Bund" und "Vorstand" eigentlich gedacht ist. Was ist der Vorstand? Eine Art inhaltliche Autorität, die demokratisch durch Delegierte gewählt wird? Denn faktisch gebärdet sich der Vorstand so, er gibt die Erziehungskunst heraus, die Vorstandsmitglieder verbreiten darin ihre privaten, großartig fachkompetenten Gedanken, er bestimmt Leitlinien (Gewaltprävention, Lehrpläne) und legt überhaupt fest, wer den Waldorfnamen gebrauchen darf. Ergo: wenn die Sache schon so ist, dann müssten in den Vorstand des Bundes die sagenhaft-kompetentesten aller Waldorf-Lehrer und – Dozenten! Nicht irgendwelche Leute, deren Namen man sonst nicht kennt. Aber letztlich ist die ganze Konstruktion natürlich misslich. Es braucht eben keine Fachaufsicht, die uns lieben Kindchen sagt, was geht und was nicht. Und erst recht braucht es kein Weltanschauungskontrollgremium, das darauf acht gibt, dass wir nicht "wissenschaftsfeindlich" und nicht "irrational" sind. Und dass wir gefälligst "die Impfung" nicht schlecht finden. Kindergarten ist sowas!

Die Achse der gesamten gesellschaftlichen Problematik, um die wir drehen, ist nach meiner Auffassung die Tatsache, dass die Menschen es bisher nicht dahin gebracht zu haben, dass Denken zu etwas anderem zu gebrauchen als zur Bildung eines babylonischen Stimmengewirrs von Meinungen. Das von dir besprochene freie Geistesleben ist nicht zu denken, wenn man, wie in der "modernen Demokratie", den Schwerpunkt auf die Pluralität der Meinungen legt. Dann hat man z.B. im Falle einer mutmaßlichen Seuche ein Problem. Für denjenigen, der die Seuche anerkennt, besteht nämlich ein Rechtsproblem, also etwas, für das er sinnvollerweise staatlichen Zwang fordert (Lebensrettung durch Hygiene). Für den, der anderer Meinung ist, ist der staatliche Zwang unangebracht, ja schädlich.

(Fortsetzung unten...)

Stefan Oertel hat gesagt…

(Fortsetzung:)

Auch die soziale Dreigliederung selbst ist etwas, was man nur erfassen kann, wenn man sich angewöhnt, sein Denken an Realitäten anzuschließen, bzw. sich wenigstens darum zu bemühen weiß. Was Ware, Recht, Person, Idee usw. eigentlich sind, und in welchem (das Soziale betreffenden) Verhältnis sie eigentlich stehen, ist ja bei Steiner aus der Realität selbst herausgeholt. Es gibt bei ihm, wie du selbst oft betonst, kein "Konzept" das "verwirklicht" werden muss. Es gibt reale Prozesse, die bemerkt werden müssen und wenn man sie wirklich erkennt, begreift man auch, was sie implizieren und praktisch erfordern.

Ich glaube wirklich, dass dieses Problem, dass das Denken sich nicht angewöhnt hat, Wahrnehmungsorgan für die Realität zu werden, sondern weiterhin luziferischer, subjektiver Verstand ist, den zentralen Punkt darstellt. Versuche mal mit einer Gruppe von Leuten über eine Angelegenheit die nicht so sinnenfällig klar ist, wie bspw. die Anzahl einer bestimmten Art von Stühlen in einem Raum, irgendwie zu einer gedanklichen, in der Sache begründeten Einheit zu kommen. Zum Beispiel in der Pädagogik, in der Medizin, in der Politik, in der Klimawissenschaft, in der Religion usw.! Was mit ein paar Leuten in einem Raum schon nur unter besonderen Voraussetzungen und bei einem sehr, sehr eng eingegrenzten Themenbereich klappt, ist in der großen Gesellschaft unmöglich.

Mir fiel das in letzter Zeit nochmal besonders auf, als ich beobachtete, WAS alles von verschiedenen Leuten, die sich für "Anthroposophen" halten, als "anthroposophisch" angesehen wird. Himmel hilf! Ein großes Gewirr von Meinungen. Die außeranthoposophische Welt weiß nicht, was sie davon nehmen soll und denkt sie sich sowieso lieber ihre eigenen Projektionen in die Anthroposophie hinein. Das berührt mich deshalb besonders, weil ich eben Anthropsophie gerade als das aufzufassen gelernt habe, was den denkenden Menschengeist mit dem Kosmos VERBINDET. Sie kann nicht hundert gegensätzliche Dinge sein. GERADE SIE beinhaltet die versuchte Ankunft des Denkens in der EINEN Realität, die es eben gibt. Sie erfordert das Stillwerden des luziferisch aufgestachelten Sujekts gegenüber den Tatsachen der Welt. Das Lauschen in die Realität hinein; sachgemäßes Denken, Unbefangenheit, Abwarten der Urteile und was der Übungen bei Steiner noch alles sind. Den Apfel eben nicht vom Baum der Erkenntnis reißen und "eine eigene Meinung" haben, wenn die Erkenntnis der Sache noch gar nicht gereift ist. Warten, bis sie sich von selber gibt, d.h. vom Baum fällt.

Ich möchte dir nicht widersprechen hinsichtlich der Notwendigkeit kompetente Autoriäten frei erkennen zu lernen. Aber auch hier geht es ja um ein Erkennen der Realität. Es besagt eben etwas, dass bei der Einschätzung von Dr. Drosten und Dr. Wodarg die Meinungen babylonisch-verwirrt auseinandergehen.

Stefan Oertel hat gesagt…

(Fortsetzung:)

Selbstverständlich ist auch eine Freiheit der Meinung und der Meinungsäußerung sozial sehr wichtig und ein unbedingtes Recht. Für die zu erkennende SACHE ist die Meinungsvielfalt aber völlig nebensächlich, denn für sie zählt allein, dass die RICHTIGE Meinung (=Wahrheit) gefunden wird. Das begreifen viele, die heute autoritäres Handeln begrüßen. Wenn z.B. die Welt wegen des Klimas untergeht, dann sind die Rechte aller betroffen und man muss handeln. Die Tatsachen fordern es, man kann dann nicht mehr jedem überlassen, ob er auch privat glaubt, dass die Welt ruiniert wird. Die Forderung nach Zwang ist einfach das Resultat der Sachmeinung der Klima-Kämpfer. Ich persönlich halte übrigens die Klima-Panik, ähnlich wie die Corona-Panik für eine Art gesellschaftlicher Psychose, aber das will ich hier gar nicht weiter diskutieren. Wesentlich ist, dass die Auffassungen und Handlungsimpulse in der Gesellschaft nicht deshalb divergieren, weil einer das Gute und der andere ausdrücklich das Böse will, oder weil der eine Recht und der andere Unrecht will, sondern weil Uneinigkeit darüber herrscht, WAS eigentlich REALITÄT ist.

Herzliche Grüße
Stefan Oertel

Johannes Mosmann hat gesagt…

Lieber Stefan,

Danke für Deine Wertschätzung und Deine klaren, weiterführenden Gedanken. Du schreibst: „Wesentlich ist, dass die Auffassungen und Handlungsimpulse in der Gesellschaft nicht deshalb divergieren, weil einer das Gute und der andere ausdrücklich das Böse will, oder weil der eine Recht und der andere Unrecht will, sondern weil Uneinigkeit darüber herrscht, WAS eigentlich REALITÄT ist.“

Das sehe ich genauso. In meinem Essay habe ich für die freie Konkurrenz und die freie Anerkennung der wissenschaftlichen Autorität plädiert. Diesen Gedanken müsste man jetzt so fortsetzen, wie Du es tust, also dialektisch. Wie ist nämlich Einheitlichkeit in Freiheit möglich? Ist es nicht gerade die Wahrheit, die wiederum unfrei macht? Ich halte es indes für möglich, dass eine zu Ende geführte Dialektik zwischen Freiheit und Wahrheit zu folgendem Ergebnis kommen wird: Diese Wahrheit, welche die Freiheit nicht brauchte, war noch keine Wahrheit; und diese Freiheit, die sich der einen Wahrheit widersetzen musste, war noch keine Freiheit. Ich stehe sogar auf dem Standpunkt: Nur der freie Mensch lebt in der Realität, und nur wer in der Realität lebt, ist frei. Meines Erachtens besteht die eigentliche europäische Aufgabe darin, diese Behauptung zu beweisen. Dann kommt man aber notwendig zum Begriff der Anthroposophie.

Wo das nicht gelingt, entstehen dagegen autoritäre Verhältnisse. Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell sagt: „Fakten sind eine Sache, Meinungen eine andere. Meinungen sind frei, Fakten sind Fakten.“ In zwei Sätzen ist damit der ganze Irrtum der Gegenwart benannt. Tatsächlich stimmt jedoch das Gegenteil: Fakten sind an und für sich gar nichts. Relevant ist nur das FaktenWISSEN. Dieses ist aber entweder frei, oder ist überhaupt kein Wissen. Kommt meine "Wahrheit" unter irgendeinem Zwang zu Stande, so ist sie keine. Die Meinung dagegen ist niemals frei, sondern, wie Du richtig schreibst, subjektiv bedingt. In meiner Meinung kommt zum Ausdruck, was auf mich, oder in mir wirkt. Von "freien Meinungen" zu faseln, ist also Nonsens. Richtig ist es aber, für eine freie MeinungsÄUßERUNG einzutreten, weil die Meinung sich erst im Dialog, d.h. in der freien Konkurrenz mit anderen Meinungen, ihres subjektiven Charakters entkleiden und zur Wahrheit erheben kann. Dieser Prozess, in Freiheit zur Einheit zu finden, ist eigentlich gemeint mit "freies Geistesleben". Dass heute keiner echte Freiheit will, lieg m.E. daran, dass in Wahrheit keiner Objektivität will – in einem freien Geistesleben käme nämlich eben nicht meine Meinung, dass beispielsweise der Mensch ein Säugetier sei etc., als absolute, sondern nur als relative Wahrheit heraus. Die Feinde der Freiheit und die Feinde der Wahrheit, das sind dieselben Kräfte …

Man kann sich durchaus für Waffenlieferungen, für Krieg entscheiden. Aber man muss sich dann eben auch dafür entscheiden. Aktuell passiert jedoch etwas völlig anderes: eine Entscheidung, die man sich nicht bewusst zu fällen traut, bestimmt aus dem Unbewussten heraus die Beobachtung, auf deren Grundlage dann entschieden werden soll. Es wird also eigentlich weder beobachtet, noch entschieden. Der subjektive Wille verfälscht vielmehr die Beobachtung der Sache so, dass die heimlich gewünschte Entscheidung "automatisch" aus der Sache zu folgen scheint. Die Ukraine-Politik ist, wie zuvor die Corona-Politik, primär ein psychiatrisches Problem. Man könnte durchaus Waffen liefern – wenn man zu diesem Zweck aber bspsw. Putin für "geisteskrank" erklären muss, kann man es eben doch nicht! Dann steht man nämlich mit seinen Entscheidungen nicht in der Realität. Der vollkommene Realitätsverlust, als Grundlage unserer Entscheidungen, das ist das Furchtbare – und wie Du sagst: Anthroposophie übt deshalb das Stillwerden gegenüber den Tatsachen, damit wir in die Realität finden, und so wiederum zusammenfinden.

Herzliche Grüße, Johannes

Stefan Oertel hat gesagt…

Lieber Johannes, ich war längere Zeit krank und konnte nicht antworten. Ich finde deine weiterführenden Gedanken ganz wesentlich, vielen Dank dafür! Muss sie gerade nochmal durchdenken... Herzliche Grüße Stefan

Anonym hat gesagt…

Herr Moosmann schreibt. »Ich erlebe Immigration AUSSCHLIESSLICH als Bereicherung, auch in „Massen“.«

SIE erleben das so. Wie schön für Sie! Ich gehe mal davon aus, dass ihr Erlebnisfeld sich auf ein paar priviligierte anthroposophische Projekte im Zusammensein mit eher gebildeten und liberal gesonnenen Zuwanderern beschränkt und sie weder länger in Neukölln gelebt noch in Flüchtlingsunterkünften gearbeitet haben.

Ist also jeder rechtsextremistische Graue-Wölfe-Anhänger, jeder Islamist und jeder muslimische Antisemit auschließlich eine Bereicherung für unsere Gesellschaft? Wenn dem so ist: Gilt dann also auch der Umkehrschluss? Jeder Skinhead und jeder rechtsextreme gewaltbereite Bio-Germane ist ebenfalls eine "Bereicherung" unserer Gesellschaft?

Ich gehe jetzt mal davon aus, dass Ihr Satz eine Provokation darstellt, die nicht völlig ernst gemeint war. Mit dem Zusatz »Ich erlebe das so« haben Sie ja gewissermaßen schon die Subjektivität dieses Satzes eingeräumt.
Denn wer die Probleme, wie importierten muslimischen Antisemitismus, eine sich stetig ausweitende arabische Klankriminalität, den überrepräsentativen Anteil von Zuwanderern an Intensivtaten (in Schweden etwa an Vergewaltigungen, hierzulande auch bei anderen Gewalttaten), eine massive Ablehnung "westlich-demokratischer" Werte durch nicht integretationswillige Zuwanderer, die Erosion des Sozialstaates durch eine fehlgeleitete Einwanderungspolitik (die nicht Schuld der Einwanderer ist, sondern der Politik!) nicht sehen will, weil sie ihm nicht in sein Schwarz-Weiß-Weltbild hineinpassen, dem ist tatsächlich schwer mit Argumenten beizukommmen. – Ansätze der Dreigliederungsidee werden nur auf einem Boden, der demokratische und liberale Ideale als gesellschaftlichen Konsens hat, funktionieren. Dieser weitgehende gesellschaftliche Minimalkonsens erodiert jedoch im Augenblick aufgrund vor allem dreier Einflüsse: zunehmender politischer Radikalisierung sowohl auf linker wie rechter Seite sowie der Zunahme islamistisch-konservativer Einstellungen unter Zuwanderern. Seit Jahren schon können selbst harmlose Islamkritiker wie Hamed Abdel Samad oder Syran Atec nur noch unter Personenschutz leben und eine liberale Moschee wie die Goethe-Ibn-Rushd-Moschee muss vor gewaltbereiten Muslimen polizeilich geschützt, ja sogar geschlossen werden. Kaum jemand aus dem muslimischen Umkreis ist bereit, für liberale Gedanken auf die Straße zu gehen und etwa Solidarität mit dieser Moschee zu signalisieren (von den Linken ganz zu schweigen). – Dass sich Links- und Rechtsradikalismus gegenseitig bedingen und die unterschiedslose Ablehnung von Zuwanderern sowie Diskriminierungserfahrungen derselben wiederum die Identifikation mit islamistischen Vorstellungen fördert und der politische Islam wiederum rechte bis rechtsextreme Anschauungen als Gegenreaktion befördert, dies steht auf einem anderen Blatt. Das ist natürlich ein ganzes Geflecht von einander bedingenden Faktoren. – Meiner Ansicht nach ist aber die Position »Zuwanderung sei ausschließlich eine Bereicherung" eine GEFÄHRLICHE Position, welche die Realität ausblendet und damit gerade den rechtsextremen Kräften in diesem Land Nahrung gibt.

Johannes Mosmann hat gesagt…

Lieber Anonym,

Ich habe tatsächlich die längste Zeit meines Lebens in Neukölln gelebt, zwischen Sonnenalle und Karl-Marx-Straße. Und zwar lange bevor Neukölln zur Hochburg der Hipster wurde. Das Straßenbild war von Arbeitern und Hartz-IV-Empfängern, und vor allem muslimisch geprägt. Und ja, die Clans hatten und haben bestimmte Wirtschaftszweige wie z.B. das Glücksspiel oder den Kokain-Handel fest in der Hand.

Als der damalige Bezirksbürgermeister Heinz Buschkowsky und später auch Thilo Sarrazin die angebliche „Überfremdung“ anprangerten, motivierte mich dies gleichwohl, geneinsam mit anderen Neuköllnern und Kreuzbergern die „Interkulturelle Waldorfschule“ zu gründen, um den Sarrazins dieser Welt etwas entgegenzusetzen – weil ich Zuwanderung in der Tat als Bereicherung erlebe.

Mit Anthroposophen hatte ich eher weniger Kontakt. Ich arbeitete in der jüdischen Gemeinde als Deutsch-Lehrer für zugewanderte Juden aus Osteuropa. Mit Clan-Kriminalität, Antisemitismus oder dem mittelalterlichen Frauenbild einiger Bevölkerungsgruppen bin ich vermutlich häufiger und gründlicher in Berührung gekommen als Sie. Lehrreich waren für mich aber auch viele Diskussionen mit Mitgliedern der „Zionistischen Jugend Deutschlands“, meine Freundschaft mit Russen, oder die Auseinandersetzung mit meiner us-amerikanischen Verwandtschaft.

Ich erlebe Zuwanderung ausschließlich als Bereicherung. Das bedeutet gerade nicht, dass ich die Probleme übersehe, die Sie ansprechen. Ich behaupte aber erstens: Das problematische Verhalten einer Gruppe, bzw. die Gruppenbildung an sich, wird durch Menschen wie Sie, die Zuwanderung eben nicht als Bereicherung erleben können, mit-konstruiert. Das Demokratieverständnis von Zuwanderern, das Sie teilweise sicher zu recht vermissen, könnten Sie am besten dadurch fördern, dass Sie selbst konsequent für Demokratie eintreten, statt für eine Ethnokratie.

Zweitens aber ist es ganz selbstverständlich, dass z.B. unter zugewanderten Libanesen auch Kriminelle sind. Das erlaubt noch keine Aussage darüber, inwiefern die Zuwanderung als solche insgesamt eine Bereicherung ist oder nicht. Sie bringen zum Vergleich das Beispiel des deutschen Skinheads und fragen, ob also im Umkehrschluss jeder Bio-Deutsche eine „Bereicherung“ sei. Nein, natürlich ist nicht jeder Bio-Deutsche eine Bereicherung für die Gesellschaft. Aber ich würde mich deswegen ja auch nicht gegen das Vorhandensein von Bio-Deutschen in Neukölln aussprechen.

Für mich ist das eine Frage der Bilanz: Der Vorteil, den die Zuwanderung der Gesellschaft bringt, überwiegt den Nachteil, dass nämlich unter den Zugewanderten auch Kriminelle, Terroristen und so weiter sind. Die beste Wirkung für die Demokratie kann erzielt werden, wenn die Kulturen, also auch die „Bio-Deutschen“, jeweils innerlich in Bewegung kommen und voneinander lernen. Ein Vorteil der Zuwanderung liegt also unter anderem auch darin, dass Menschen wie Sie im ungehinderten Fortrollen ihrer Bio-Deutschen Gemütlichkeit gestört werden – denn dieses Schmoren im eigenen Saft erachte ich als weitaus gefährlicher für die Demokratie als jedwede Clan-Kriminalität.

Mit freundlichen Grüßen
Johannes Mosmann

Johannes Mosmann hat gesagt…

Nachtrag @ Anonym:

Vielleicht war das Wort „ausschliesslich“ missverständlich, wenn ich sagte, ich erlebe Zuwanderung „ausschließlich als Bereicherung.“ Sie beziehen das nämlich offenbar auf einzelne Menschen.

Damit setzen Sie voraus, man könne eine Regelung finden, die zwischen „guten“ und „schlechten“ Migranten unterscheidet. Ich dagegen halte derartige Diskussionen für unehrlich, schon weil es praktisch unmöglich ist, unter Zuwanderern diejenigen auszufiltern, die hier vielleicht kriminell werden. Man kann in der Praxis vielleicht diese oder jene Nationalität filtern, Kontingente definieren etc., aber sicher nicht verhindern, dass dann Kriminelle etc. dabei sind. Ich komme also nicht drumherum, meine Haltung zur Zuwanderung als solcher bestimmen zu müssen. Der Verweis auf kriminelle Migranten hat daher, weil es eine Zuwanderung nur für „rechtschaffene“ Migranten eben gar nicht geben kann, tatsächlich auch keine andere Funktion, als eben die Haltung gegenüber Zuwanderung im Allgemeinen zu prägen. Und ich sage demgegenüber: Zuwanderung, inklusive der Probleme, erlebe ich als Bereicherung.

Wer die Straftaten von Migranten aufzählt, mag meine Haltung zynisch finden, insbesondere gegenüber den Opfern. Ich sehe in solchen Rechenspielen aber dieselbe Logik wie beim Corona-Narrativ: Wenn ich die Corona-Toten aufzähle, erscheint die Kritik an den Corona-Maßnahmen als zynisch. Als wollte der Maßnahmen-Kritiker die Corona-Toten in Kauf nehmen, um seine eigene Freiheit nicht einschränken zu müssen. Tatsächlich beschreiben die meisten Maßnahmen-Kritiker jedoch einen Umgang mit dem Virus, der aus ihrer Sicht insgesamt zu weniger Toten führt, wenn man z.B. die wirtschaftlichen Folgen der Maßnahmen etc. einrechnet. Das mag man unschlüssig finden, aber zynisch oder egoistisch ist es jedenfalls nicht. Und so sehe ich das auch mit der Zuwanderung: Die Polemik gegenüber kriminellen Zuwanderern, die Konservierung einer bestehenden Bevölkerungs-Zusammensetzung oder gar die Gleichsetzung von Wahlvolk und Ethnie produziert letztendlich ein Vielfaches des Leides, das von kriminellen Zuwanderern etc. verursacht wird. Das kann ich hier kaum ausführen, aber vielleicht ist nun wenigstens zu erahnen, in welche Richtung meine Argumentation geht …

Mit freundlichen Grüßen
Johannes Mosmann

Anonym hat gesagt…

Lieber Herr Mosmann,

danke für Ihre ausführliche Antwort. Es geht nicht darum, pauschal zwischen "guten" oder "bösen" Menschen zu unterscheiden. Über diesen kindlichen Dualismus sind wir hoffentlich hinaus. Das Problem ist aber eine Politik, die jahrelang warnende Stimmen wie die von Bassam Tibi, Seyran Atec, Mansour, Henryk M. Broder oder Hamed Abdel-Samad in den Wind geschlagen hat. Eine Politik der (weitgehend) grenzenlosen Zuwanderung von Menschen aus muslimischen oder afrikanischen Ländern mit all den dadurch entstandenen, sich Jahr für Jahr verschärfenden Problemen erscheint mir gefährlich und blauäugig. Gefährlich, weil sie von zwei Dritteln der Bevölkerung mittlerweile abgelehnt wird und sich damit undemokratisch über den Mehrheitswillen hinwegsetzt, gefährlich, weil dadurch gerade die Teilung der Gesellschaft und der politische Extremismus von links und rechts, aber als Antwort darauf auch wieder der Islamismus gefördert werden. Vor dem Ukraine-Krieg hatten wir bereits eine Einwanderungsquote von ungefähr 200.000 Menschen aus Nordafrika und dem Nahen Osten pro Jahr. Das entspricht ungefähr der Einwohnerzahl einer mittleren Großstadt Münsters, Jahr für Jahr! Wenn Menschen, die zu einem Großteil an europäischer Kultur und Demokratie kein Interesse haben, in einer derartigen Anzahl in ein kleines Land wie die BRD ungebremst kommen, gehört schon sehr viel Realitätsflucht dazu, um sich nicht auszumalen, dass ein solches demokratisches Gemeinwesen in weiteren zehn oder 20 Jahren überhaupt nicht mehr funktionieren KANN (vom Sozialstaat einmal ganz abgesehen, der nur funktioniert, solange ein breiter Mittelstand die Mittel dafür erwirtschaftet). –
Was haben sie gegen Heinz Buschkowski? Haben Sie seine Bücher gelesen? Buschkowski benennt darin die konkreten Probleme der Integration insbesondere Berlin-Neuköllns, die durch grün ambitionierte Schein-Projekte häufig kaschiert wurden und werden. Nirgendwo (!) wendet sich Buschkowski in seinen beiden mir bekannten Büchern pauschal gegen Zuwanderer aus Nordafrika oder dem Orient! – Wenn sich jetzt die ganze Gesellschaft schockiert darin zeigt, dass allenthalben ein muslimischer Antisemitismus manifest wird, dann frage ich mich nur, wo diese Menschen die letzten 20 Jahre gelebt haben? Es ist doch kein Geheimnis und dazu gibt es diverse Studien, wie sehr antisemitische Stereotypen etwa in Schulbüchern in arabischen Ländern verbreitet sind und wie sehr sie das Denken von vielen Muslimen in Deutschland prägen (ich rate nur mal die Bücher von Michael Wolfsohn, Mansour oder Konstatin Schreiber hierzu zur Kenntnis nehmen – letzterer wurde von Linksradikalen massiv bedroht, Mansour "genießt" Personenschutz des LKA rund um die Uhr wie alle anderen liberalen Muslime). Übrigens: Die Idee der sozialen Dreigliederung kann sich nur auf dem Boden eines Gemeinwesens entfalten, das nicht nur in einem anderen Menschenbild, sondern auch in der Anerkennung demokratisch-liberaler "europäischer" Werte wurzelt. Mit Angehörigen aus tribalistischen und illiberalen Kulturen können sie weder die Demokratie erhalten, noch sie in Richtung Dreigliederung fortbilden. – Zu guter Letzt aber noch ein Kompliment an Sie und Kollegen: Ich gebe Ihnen Recht darin, dass solche Projekte wie die »Interkulturelle Schule«, deren Geschäftsführer und Mitinitiator sie sind, sehr viel wertvoller und heilsamer sind, als noch so viel Analytik der Problematiken. ALLERDINGS: Das eine sollte das andere nicht ausschließen, vor allem dann nicht, wenn es darum geht, als Politiker Entscheidungen zur Zuwanderung zu fällen – oder auch Solidarität zu bekunden, wie jetzt etwa gegenüber Seyran Atec, deren liberale Ibn-Rush-Goethe-Moschee aufgrund massiver Terrordrohungen aus der muslimischen Comminity bedroht wird (während sich kaum Muslime hinter sie stellen!). Ich grüße Sie freundlich
Heiko Ebbing

Johannes Mosmann hat gesagt…

Sehr geehrter Herr Ebbing,

Erstens ist es ein Ammenmärchen, dass die Zuwanderung mehr kostet als sie wirtschaftlich bringt. Durch zahlreiche Studien ist diese Behauptung längst widerlegt. Zweitens wird der Sozialstaat zu 80 % von Geringverdienern getragen. Arbeitnehmer, die über 110.000 Euro im Jahr verdienen, tragen sogar nur 5%.

Ich gebe Ihnen aber insofern recht, als Migranten der Weg in die Arbeit und insbesondere auch in die Mittelschicht erleichtert werden sollte. Ich kenne persönlich einen syrischen Rechtsanwalt, der nach langer Arbeitslosigkeit heute als Busfahrer arbeiten darf. Und eine palästinensische Literaturwissenschaftlerin, der es nur durch meinen persönlichen Einsatz möglich wurde, als Reinigungskraft zu arbeiten.

Ihr Hauptargument scheint mir aber kein wirtschaftliches, sondern das sogenannte „demografische Problem“ westlicher Demokratien zu sein. Vereinfacht gesagt: „Wenn 51% der Wähler keine Demokratie wollen, sind die Demokraten demokratisch überstimmt“. Dies wird dann wiederum auf Ethnien oder religiöse Gruppen bezogen – wenn immer mehr Menschen die Scharia wollen, fehlt der Demokratie irgendwann die Bevölkerungsmehrheit.

Die brutale Konsequenz dieser Logik erleben wir gerade im Nahen Osten: Israel kann sich für eine Ein-Staaten-Lösung nicht öffnen – die Palästinenser würden sich überproportional vermehren, sodass, wenn Palästinenser dieselben Rechte in Israel erhielten, der isralische Staat bald kein jüdischer Staat mehr wäre; ja Juden eine Minderheit bildeten und deshalb Verfolgung fürchten müssten. Die Zwei-Staaten-Lösung krankt jedoch an demselben Problem der Gleichsetzung von Staatsbürger und Ethnie: Niemals würden die Palästinenser vergessen, dass sie dorthin vertrieben wurden, und der Boden des blühenden Nachbarstaates „eigentlich“ auch ihnen zusteht. Der palästinensische Staat wäre eine permanente Bedrohung für Israel. Und je nachdem, welcher Islam dort greift, würden Staat und Religion/bzw. Ethnie ja ohnehin gleichgesetzt.

Die Logik des "demografischen Problems" erscheint also auf den ersten Blick zwingend. Und Länder wie z.B. der Irak haben das sogar praktisch bewiesen: Sobald die eine Bevölkerungsgruppe überproportional vertreten war, nutzte sie ihr Übergewicht dazu, sich an der anderen zu rächen.

Ich kann dieser Logik dennoch nicht folgen, und zwar aus dem folgenden Grund: Eine Demokratie, die nicht von der Ethnie abstrahiert, ist keine Demokratie, sondern eben eine Ethnokratie. Das Wort „Menschenrecht“ hat dann keinen Sinn mehr. Wenn es zutrifft, dass man Ethnien hübsch in eigenen Staaten separieren muss, dann ist das Ideal der Demokratie sowieso obsolet. Sie haben also recht, dass Demokratie eine entsprechende Kultur voraussetzt, aber sie setzt eben diejenige Kultur voraus, die in der gleichberechtigten Begegnung verschiedener Ethnien originär als menschliche Neuschöpfung erst entsteht.

Es bleibt „unserer“ Demokratie deshalb nur eine einzige Option: Die Flucht nach vorne, sich öffnen, sich begegnen.

Ich will das Szenario, dass der Demokratie irgendwann die Mehrheit fehlt, also gar nicht abtun. Ich bezweifle allerdings, dass Bio-Deutsche (die übrigens schonmal demokratisch einen „Führer“ gewählt haben) in Sachen Demokratie wirklich eine sichere Bank sind. Vielmehr hängt die Demokratie-Fähigkeit aller Menschen, also auch der Deutschen, entscheidend davon ab, ob es ihnen gelingt, zu einer „interkulturellen“ Gemeinschaft heranzureifen, und so das „demografische Problem“ praktisch zu überwinden.

Die Frage kann nicht theoretisch, sondern nur real gelöst werden, indem Demokratie eben real immer weniger von kultureller Identität abhängig gemacht wird. Ich würde deshalb auch tatsächlich damit anfangen, Zuwanderern dieselben Rechte zuzugestehen. „Demokratie“ ist in meinen Augen ein historisches Experiment, für das uns in Europa nur noch ein ganz kleines Zeitfenster bleibt. Wenn nun aber Menschen mit dem Argument der „Sicherung“ von Demokratie ausgegrenzt werden, dann ist das Experiment gescheitert, bevor es wirklich begonnen hat.

Herzliche Grüße
Johannes Mosmann