16.02.2015

Kollegiale Selbstverwaltung und Dreigliederung

Was genau verstand Rudolf Steiner unter einer „freien“ Einrichtung? Ein Essay von Johannes Mosmann

Nachbearbeitung eines Vortrags für für die jährliche Regionaltagung der Hamburger Waldorferzieher vom 07.02.2015 in der Rudolf Steiner Schule Hamburg-Altona.

"Es ist also das Gegenteil von „Mitbestimmung“ gemeint. Ich urteile nicht dem anderen in dessen Gebiet hinein, sondern erkenne, wo ich mit meinem Urteil zurückhalten muss, weil der gemeinsamen Sache besser gedient ist, wenn in dieser Frage der andere urteilt. Die Macht ist also nicht oben, sondern unten, sie liegt bei dem, der seine Meinung zurückhält, und so einen Raum für den anderen schafft. Dadurch entsteht eine Struktur, die in ständiger Bewegung ist, wo eben nicht in starrer Weise Positionen festgesetzt werden können, wo man nicht abhaken kann: der ist das, die ist jenes, sondern wo man sich mit und aneinander entwickelt, und in dieser Entwicklung erkennt, wer was wo zu ergreifen hat. Wie kommen wir also zu einer selbstverwalteten Einrichtung im Steinerschen Sinn? Indem wir ..."

Johannes Mosmann Kollegiale Selbstverwaltung und Dreigliederung

15 Kommentare:

Stefan Oe. hat gesagt…

Hurra, endlich hört man wieder was von euch! Ich hatte mir schon richtig Sorgen gemacht, da seit letztem Juli Funkstille hier auf dem Blog herrschte... - Ich werde den neuen Text natürlich schleunigst lesen. Viele Grüße aus Mannheim, Stefan Oertel

Stefan Oe. hat gesagt…

Lieber Johannes,
es freut mich von dir einen Text zum Thema "Selbstverwaltung" zu lesen, einem Thema, mit dem ich als Heilpädagoge täglich sehr viel zu tun habe. Ich habe bereits Texte von dir mit Gewinn in unsere Konferenzarbeit eingebracht und hoffe, dass es mir auch mit diesem Text gelingen wird.

Ich meine wieder mal ganz gut zu begreifen, worauf du hinaus willst. Wir lieben es, Ideen zu fassen und uns unter ihre Knechtschaft zu stellen, weil sie abstrakt, klar und überschaubar sind. Wir kennen ja ihren Inhalt und da wir geneigt sind, uns immer und immer wieder das teilweise Berechtige unserer Lieblings-Idee vor Augen zu führen, gelingt es uns auch immer wieder, uns selbst von ihrer "Richtigkeit" zu überzeugen. Im Grunde sind wir dabei nur mit uns selbst beschäftigt und haben die Wirklichkeit nicht im Blick.

Demgegenüber verstehe ich Goethes Ansatz (Goetheanismus) so, dass sich das Denken in strenger Weise nach der Wahrnehmung zu richten hat. Es soll keine Theorien um die Wirklichkeit herumspinnen, die zwar logisch erscheinen, aber nicht real sind. Es soll vielmehr die Wahrnehmung so weit vertieft werden, dass dem denkenden Menschen die Wirklichkeit aufgeht, weil er die bewusste Verbindung zu ihr zustandebringt. Abstrakte Ideen sind da Hindernisse. Begriffe, die in der Auseinandersetzung mit der Wahrnehmung zu Bewusstsein kommen, sind hingegen hilfreich. Allerdings nur, sofern man sich nicht weiter an sie klammert. Es besteht ja die Gefahr, jede folgende Beobachtung so zurechtzuzwingen, dass sie in den gedanklichen Kontext des einmal Gefundenen passt, auch wenn dies gar nicht der Realität entspricht.

Nun findet man viele Menschen die durchaus begreifen, dass die Wirklichkeit nicht in Gedankensysteme zu sperren ist. Aber es gibt nur sehr wenige unter ihnen, denen klar ist, dass die Konsequenz, die man daraus zu ziehen hat, die Vertiefung der Wahrnehmungsfähigkeit ist. Sonst landet man im Nirwana der Beliebigkeit und verliert am Ende sogar die trockene, aber in sich transparente Wirklichkeit der Gedanken. Dann kann man nur noch ins Kino gehen und sich mit "Blockbustern" zuknallen.

Ich verstehe die Idee der Sozialen Dreigliederung als eine Aufforderung zur Wahrnehmung. Ich muss eine Wahrnehmung, ein bewusstes Erleben von Rechtsleben, Geistesleben, Wirtschaftsleben und der Tatsache ihrer Gliederung zustande bekommen, um wirklich etwas zu erfassen. Ich darf diese Dinge nicht in das Leben hineindenken, sondern muss sie auffinden lernen. - Wenn man die ganze Anthroposophie so versteht, erledigt sich schlagartig jede Diskussion über "Dogmatismus". Es zeigt sich, dass eigentlich keine Alternative existiert. Entweder stoßen wir zur Wirklichkeit durch oder wir betäuben uns über sie.

Ich sehe ja an mir selber, welcher weite Weg da zu gehen ist, und es macht mich ehrlich gesagt ziemlich betroffen, wenn ich so auf die Weltlage schaue. Wir sind betäubt von lauter Weltverbesserungs-Ideen. Wir sind nicht einmal in der Lage unseren Nächsten wirklich zu erkennen. Und im Grunde fühlen wir uns sehr wohl im Haus unserer begrenzten Subjektivität. Ahnen wir den Reichtum den das Leben bereit hält für den, der wirklich "seinen Sinn ändert"? Ich meine, ich ahne ihn, aber ich habe ihn nicht. :|

Solltest du irgendwann einmal dazu kommen die erwähnten Ausführungen zum Wirtschaftsleben zu tätigen, wäre ich sehr daran interessiert.
Mit bestem Gruß S. Oertel

Johannes Mosmann hat gesagt…

Lieber Stefan,

Dass Du so lange nichts von uns gehört hast, liegt vor Allem daran, dass wir im vergangenen Jahr unsere Kräfte verstärkt in die Gründung der Freien Interkulturellen Waldorfschule Berlin gegeben haben. Wir hoffen, zum Sommer starten zu können. Gleichwohl haben wir auch einiges anderes gemacht, was demnächst sichtbarer wird - z.B. habe ich ein kleines Buch zum Thema des Vortrags verfasst, und wir haben dreigliederung.de komplett neu gestaltet, was aber erst in einigen Wochen zu sehen sein wird. Um so mehr freut es mich, dass Du offenbar von Zeit zu Zeit auf den blog schaust!

Schön, dass Du so viel mit meinem Vortrag anfangen konntest, und ich kann Deinen Ausführungen dazu nur zustimmen - um diese Blickrichtung ging es mir. Ich möchte dazu, gewissermaßen „unter uns“ hier im blog :-), noch etwas anmerken, was ich im Vortrag nur andeuten konnte: Dass soziale Dreigliederung etwas meint, das als objektive Gesetzmäßigkeit unseres Zusammenlebens aufgefunden werden kann, erlebt man gerade an den dunklen Kräften der Gegenwart - diese beruhen ebenfalls auf der sozialen Dreigliederung. Das lässt sich bis ins Einzelne verfolgen, bei jeder Form von Macht, und gerade auch bei den neuen Herrschern des digitalen Zeitalters, bei Amazon, Google, Facebook, Twitter usw. Ich empfehle Dir sehr die Lektüre dieses Buches:

www.amazon.de/Silicon-Valley-mächtigsten-Welt-zukommt/dp/3813505561

Alle diese Unternehmen haben ihren Ursprung im hübschen Silicon Valley. Und um zu verstehen, wie die unglaubliche Macht dieser Unternehmen entsteht, muss man m.E. durchschauen, was in diesem Tal eigentlich vor sich geht. Christopher Keese hat dazu einen großartigen Beitrag geleistet, weil er die Sache einfach beschreibt. (Dass ich deswegen trotzdem nicht die politischen und ökonomischen Ansichten von Keese teile, brauche ich Dir nicht zu erklären.) Keese hat ein halbes Jahr dort gelebt, mit Investoren, Entwicklern usw., und stößt dabei auf eine Art von Persönlichkeitsspaltung, im Zusammenhang mit einer unbewussten Dreigliederung (die Keese zwar beschreibt, aber natürlich nicht "sieht") ...

Herzliche Grüße
Johannes

Stefan Oe. hat gesagt…

dreigliederung.de ist inhaltlich so gut, da freue ich mich natürlich, dass ihr am "Outfit" gearbeitet habt. Im Moment wirkt die Site etwas "vergessen", was sehr schade ist, gerade wenn man bedenkt, wie sehr es nötig ist, dass das dort Geschriebene Beachtung findet. Ich hatte auch die Idee, ob ihr sowas wie einen institutsinternen "Newsticker" einrichten könnt: also News nicht hinsichtlich der Dreigliederung, sondern News hinsichtlich dessen, was ihr gerade arbeitet. Da würden zwei Twitter-mäßige Sätze alle zwei Monate genügen. Wer nicht in eurer Nähe lebt, weiß nämlich sonst nicht, was los ist und ich könnte mir vorstellen, dass solche Transparenz eurer Crowdfunding-artigen Finanzierungs-Vision entgegenkäme. Die Menschen brauchen ja ein Gefühl für das, was sie finanzieren helfen. Es ist ja nicht bei allen so, wie bei mir, der ich die, hehe, quasi telepathische Gewissheit habe, dass ihr an den richtigen Dingen dran seid... :)

Vielen Dank für den Buchtipp, ich werde es gleich bestellen... mal sehen, ob bei Amazon... ;|
Herzlich,
Stefan

Stefan Oe. hat gesagt…

Tschuldigung, ich meinte "instituts-eigen", nicht "instituts-intern", als ich vom "Newsticker" sprach. Und natürlich würde sich der Vorschlag erledigen, falls ihr eure Blog- oder Newsletter-Aktivität wieder aufnehmt. Gruß nochmal SO

Alessandro S. hat gesagt…

Lieber Herr Mosmann,

erst mal vielen Dank für den (wie immer) interessanten Text. Ihre Beiträge sind für mich immer eine große Hilfe und ein Vergnügen.
Es gibt jetzt aber einen Punkt, bei dem ich nicht weiter komme: Sie sagen, dass das Rechtsleben aus dem Gefühl der Menschen strömt, und dass das mit Freiheit und Wahrheit nichts zu tun hat. Folglich, sage ich, kann ein Parlament eigentlich nicht darüber abstimmen. Andererseits sagen Sie, dass "die Demokratie der richtige Modus im Rechtsleben, weil es keine Wahrheit ist, können wir darüber abstimmen". Ich sehe da ein Widerspruch. Was habe ich falsch verstanden?
Und noch was. Was passiert wenn aus der Gefühlsebene doch widersprüchliche Gefühle entstehen? Wenn ich richtig verstanen habe, strömen "gerechte" Gesetze aus der Gefühlsebene. Da gibt es nichts zu diskutieren; wir fühlen alle, dass ein Mensch nicht umgebracht werden darf. Das ist Recht. Aber es gibt Länder, wo z.B. die Todesstrafe gilt. Da entstehen aus der Gefühlebene der Menschen widersprüchliche Gefühle. Manche fühlen, dass die Todesstrafe ein Verbrechen ist, andere finden sie richtig. Also führt jetzt diese Gesellschaft die Todesstrafe ein oder nicht? Muss man nicht im Parlament (frei) darüber abstimmen? Gehört das nicht zum Recht?

Ich hoffe, dass Sie den Knoten in meinem Kopf lösen können!

Herzliche Grüße!

Johannes Mosmann hat gesagt…

Lieber Herr S.,

Vielen Dank für Ihre interessante Frage! Ich bin mir nicht sicher, ob ich den Knoten lösen kann, aber ich will es versuchen. Zuerst zu Ihrer ersten Frage:

Sie sagen: Das Rechtsleben hat mit Freiheit und Wahrheit nichts zu tun. Dann folgern Sie: also kann ein Parlament darüber NICHT abstimmen. Diese Folgerung verstehe ich nicht. Das müssten Sie mir erklären, denn natürlich ergibt sich daraus ein Widerspruch zu meinem Vortrag - ich ziehe ja den entgegengesetzten Schluss. Ich sage ja dort: WEIL das Rechtsleben mit Freiheit und Wahrheit nichts zu tun hat, kann das Parlament darüber abstimmen. Natürlich ist das sehr scharf ausgedrückt, aber ich glaube, es hilft, das Wesentliche zu sehen. In meinem Vortrag hatte ich ja die Anwesenden gebeten, zuerst über den Satz: „Der Mensch hat ein Recht auf Unversehrtheit seines Leibes“ und dann über den Satz: „Lisa ist entwicklungsgestört und braucht eine spezielle Förderung“ nachzudenken. Allen Anwesenheiten war unmittelbar klar, dass über den ersten Satz abgestimmt werden kann (ob parlamentarisch oder direkt ist an dieser Stelle nicht wesentlich), über den zweiten dagegen nicht.

Mir geht es darum, dass wir als Menschen ein Gefühl für diesen Unterschied entwickeln. Dazu ist es vielleicht gar nicht nötig, sich auch über die Gründe für den gefühlten Unterschied aufzuklären. Deshalb deute ich das oftmals nur an. Aber der Grund ist eben der, dass der erste Satz keinerlei Aussage über irgendeinen Gegenstand enthält, und somit weder wahr noch unwahr sein kann. Dass der Menschen ein Recht auf Unversehrtheit seines Leibes habe, ist kein Urteils-Satz. Das bezieht sich nicht auf ein Objektives, das können wir nicht „erkennen“, nicht „beweisen“, nicht „erschliessen“, sondern das müssen wir Menschen erst als Tatsache unseres Zusammenlebens schaffen - dann ist es da. Das liegt also subjektiv in uns als Menschen. „Objektiv“ erscheint das dann nur deshalb, weil es eben von allen oder vielen Menschen gefordert wird. Es gibt also in meinem rein subjektiven Empfinden etwas, das gar nicht individuell ist, sondern das zugleich auch im Empfinden meines nächsten liegt. Auf dieser Tatsache beruht die Möglichkeit, demokratisch abzustimmen. Deshalb können in diesen Fragen auch alle Menschen „als Menschen“ mitsprechen. Der zweite Satz dagegen ist ein Urteil über ein da draußen in der Welt seiendes, nämlich über Lisa. Die Lisa ist ja wirklich da, unabhängig von unseren Gefühlen. Und weil es also ein Urteil ist, kann es richtig oder falsch sein. Es kommt sogar alles darauf an, ob es sein „Objekt“ trifft. Die Richtigkeit oder Falschheit eines Urteils wiederum hängt von demjenigen ab, der das Urteil fällt, von seinen Fähigkeiten, Lisa zu erkennen, davon, ob er Lisa auch tatsächlich wahrnimmt, usw., und eben zu keinem Zeitpunkt von dem, was der Mensch bloß „als Mensch“ hervorbringen kann. Der Urteilende muss zumindest anwesend sein, dem zu Beurteilenden real gegenüberstehen. Schon diese Tatsache müsste jedem denkenden Menschen die Unmöglichkeit eines demokratischen Bildungssystems vor Augen führen. Rudolf Steiner sagt das einmal ungefähr so: es könne sogar die 12 Gescheitesten Menschen zusammensitzen und die gescheitesten Beschlüsse darüber fassen, was Kinder im allgemeinen können sollen - real ist das nicht, real ist nur, was zwischen dem tatsächlich anwesenden Erwachsenen und dem tatsächlich anwesenden Kind, bedingt durch deren Individualitäten, als Möglichkeit erst entsteht, und darauf muss man die Aufmerksamkeit richten.

Johannes Mosmann hat gesagt…

Und zu Ihrer zweiten Frage: Gesetz sollte das sein, was jeder Mensch ab einem bestimmten Alter bloß Kraft seines Menschseins eben zugeben kann. Das heisst aber nicht, dass es da keine "Diskussion" gibt. Nur besteht die Diskussion für Rudolf Steiner nicht in einer intellektuellen Auseinandersetzung, sondern im Zusammenleben selbst - er nennt das "abschleifen": die Menschen schleifen im Zusammenleben ihre Gefühle aneinander ab. Die Frage nach der "Organisation" des Staates wäre also die Frage danach, wie die Menschen sich so zueinander stellen, dass sie durch die gegenseitigen Verhältnisse an jenes Allgemeinmenschliche herankommen. Und das interessante ist ja, dass das, was sich dann aus dem Gefühlsleben der Menschen ergibt, nichts gefühlsdusseliges ist, sondern mathematische Strenge hat. Man könnte den ganzen Vorgang vielleicht so beschreiben: im Zusammenleben entwickeln die Menschen ein Organ für den Wert des Menschen. In der Auseinandersetzung miteinander bringen wir das, was wir so fühlen, allmählich in eine scharfe Begriffsform. Das Rechtsleben ist also gewissermaßen der Übergang vom Gefühl zum Verstand, aber nicht individuell, sondern als Gemeinschaftsprozess. Jetzt hoffe ich sehr, dass Sie nicht einen neuen Widerspruch sehen, wen ich sage: sofern das Rechtsgefühl "Organ" ist, entspricht diesem Organ auch etwas, das eben von ihm wahrgenommen wird. Also könnte man sagen: dem Recht liegt etwas Objektives zu Grunde. Aber sie werden aus obigem sicher ersehen, inwiefern dieses "Objekt" dann etwas ganz anderes meint als das einem Individuum gegenüberstehende Objekt der Erkenntnis. Das Rechtsleben bring durch das gemeinschaftliche Ausbilden des Rechtsempfindens sein "Objekt" nämlich erst hervor. Sobald ich dann als Individuum (z.B. als Jurist) erkennend auf dieses so geschaffene Objekt hinsehe, befinde ich mich wieder im Geistesleben, bin wieder als Individuum ganz anders involviert.

Ich würde mich nicht dagegen wehren, wenn Sie sagen: ein Volk, das die Todesstrafe einführt, hat das Rechtsgefühl noch nicht soweit entwickelt wie ein anderes. Dann kann man natürlich sehen, wie ein freies Geistesleben die weitere Entwicklung des Rechtsgefühls fördert, und auf der anderen Seite auch das Rechtsleben selbst, wie sich also die Positionen aneinander "abschleifen", auch im wechselseitigen Verkehr der Völker. Und natürlich kann es auch sein, dass ich als mich als Einzelner verpflichtet fühle, gegen das Gesetz zu handeln, gerade weil mein Rechtsgefühl das von mir verlangt. Nur muss man sich dann der Tatsache bewusst sein, dass man dann als Individuum handelt, und sich damit bewusst gegen das Rechtsleben stellt. Der Rechtsanwalt Ingo Krampen hat das einmal sehr schön gesagt: Er habe Verständnis dafür, wenn einer Abends an einer leeren Kreuzung steht, weit und breit kein Auto sieht und dann einfach bei Rot losfährt. Es kann nämlich absurd, manchmal sogar falsch sein, sich an das Gesetz zu halten. Krampen ging sogar weiter: man sei als Mensch dazu aufgerufen, nach seinem moralischen Empfinden zu gehen, auch wenn Gesetze etwas anderes fordern. Dann fügte Ingo Krampen jedoch hinzu: sein Verständnis höre jedoch in dem Augenblick auf, wo derjenige, der in dieser Weise gegen geltendes Recht verstoße, die Tatsache seines Rechtsverstoßes nicht anerkenne, zum Anwalt laufe, klage usw. Sinngemäß sagte er: wenn ich mir als Individuum mehr zutraue als das "Volk", dann muss ich auch voll anerkennen, was das Volk dann mit mir macht. Das ist ein Standpunkt, den ich für den Ausdruck eines wahrhaft gesunden Rechtsgefühls halte.

Mit freundlichen Grüßen
Johannes Mosmann

Stefan Oe. hat gesagt…

Guten Tag,
ich bin hier sehr interessierter Mitleser. Danke für die Frage und die Antwort!

@Johannes: Ist nicht gerade die Tatsache, dass moralisches Handeln und Recht einander widersprechen, ein Zeichen dafür, dass mit dem vorhandenen Recht etwas nicht stimmt? Sollte das nicht gerade *nicht* einander widersprechen müssen?

Dein Beispiel zeigt es: Jeder Gesetzgeber tendiert dazu, ein einmal erstelltes Gesetz auf Gebiete auszuweiten, die es eigentlich gar nicht betrifft. Es soll halt immer alles allgemein gelten. Im Falle der roten Ampel haben wir aber das Problem, dass man mit vernünftigem Rechtssinn eigentlich nur dann die Gültigkeit der entsprechenden Verkehrsregel verlangen und akzeptieren kann, wenn auf der Kreuzung auch wirklich Menschen vorhanden sind, die durch eine Missachtung der Regel gefährdert werden können. Das ist in dem Beispiel aber nicht der Fall. Zeigt das Beispiel nicht also in Wahrheit, dass einem Gesetz über den tatsächlich sinnvollen Rahmen hinaus Gültigkeit zugesprochen wurde?

Müsste ein Richter im Falle eines Rechtsstreites nicht gerade das beurteilen: ob nach menschlichem Ermessen wirklich gefehlt wurde oder nicht? Dann wäre jedes geschrieben Gesetz nur Abstraktion, eine Art Erinnerung oder Gedächtnisstütze für den Urteilsspruch, der eigentlich aus dem Herzen kommen müsste. - Ich meine mal bei Karl Heyer gelesen zu haben, dass die römische Jurisdiktion so funktionierte. Darum sei das römische Rechtsleben auch solange in Ordnung gewesen, als bis Kaiser Justinian damit anfing, alle Gesetze genau aufschreiben zu lassen.

Besten Gruß, Stefan Oertel

Alessandro S. hat gesagt…

Lieber Herr Mosmann, vielen Dank für Ihre Antwort!

Ich glaube, der Knoten ist geplatzt (ich hoffe es…). Ich hatte ihren Text so verstanden, dass man über Sachen, die eine Gemeinschaft gleich "fühlt", nicht abstimmen kann, weil dann (hatte ich fälschlicherweise als Folgerung gezogen) sowieso alle die gleiche Stimme geben würde.
Ich hatte nicht verstanden, dass nur dieses gemeinsame "Fühlen" uns erlaubt, die Rechte der Menschen innerhalb einer Gesellschaft zu erkennen; und dass, diese die Voraussetzung ist, um überhaupt Recht zu schaffen, um eben die Rechte der Mitglieder dieser Gesellschaft schützen zu können, und zwar vor denjenigen, die sich an den entsprechenden Regeln nicht halten. Und wie Sie in Ihrer anregenden und hilfreichen Antwort schreiben: "das können wir nicht „erkennen“, nicht „beweisen“, nicht „erschliessen“, sondern das müssen wir Menschen erst als Tatsache unseres Zusammenlebens schaffen - dann ist es da". Das geht nur, indem wir über die entsprechenden "Schutzmaßnahmen" (die Gesetze) als "Menschen" abstimmen.

Damit erledigt sich, glaube ich, auch die zweite Frage (Todesstrafe). Wenn eine Gesellschaft fühlt, dass sie die Todesstrafe braucht, gibt es dafür bestimmt Gründe, die ich nicht weiß, die ich nicht teile, die ich nicht verstehe, aber die auch in jener Gesellschaft dazu da sind, um die Rechte der Menschen im Allgemeinen zu verteidigen. Wir sind auf der gleichen Ebene. Und wie schön, dass durch das aneinander "abschleifen" der Gefühle und durch den Mut und die Intelligenz der einzelnen und durch ein funktionierendes Bildungssystem sich die ganze Gefühlsebene einer Gesellschaft ändern kann, damit z.B. die Todesstrafe abgeschafft werden kann.

Und dann verstehe ich auch besser der Fall von der Lisa: Wir müssen uns mit ihr ganz konkret konfrontieren, damit wir über sie, mit unseren eigenen Fähigkeiten, Kenntnisse, Talente usw. den richtigen Urteil fällen können, und Lisa wirklich geholfen werden kann. Es gibt nur eine oder wenige Lösungen, die richtig sind; darüber kann man nicht abstimmen.

Ich hoffe, nicht zu viel Quatsch geschrieben zu habe. Ich bin nicht gewöhnt, "juristisch" oder "philosophisch" zu denken (dazu in einer Sprache, die nicht meine Muttersprache ist). Aber ich gebe nicht auf: ich will die Dreigliederung verstehen! Ich hoffe, auf den richtigen Weg zu sein…

Und Danke auch an Stefan Oe. für seine Beiträge: Wahrscheinlich ist das so, dass durch ein wirklich freies Geistesleben, wir auch die passende Juristen kriegen, die solche "menschenfreundliche" Urteile fällen können…

Ciao!

Johannes Mosmann hat gesagt…

Lieber Stefan,

Ich bin nicht ganz Deiner Meinung. Aber ich könnte mir vorstellen, dass sich schnell zeigt, dass wir vielleicht doch derselben Meinung sind, sobald wir uns nämlich noch mehr über unsere Begriffe verständigen, z.B. über den Begriff "Gesetz".

Sofern ich den Staat nicht ganz abschaffen, sondern nur das Geistige und das Wirtschaftliche aus dem Staat herauslösen möchte, habe ich nichts gegen die „Allgemeinheit“ oder „Abstraktheit“ des Gesetzes, da das eben in seinem Wesen liegt. Für mich geht es nicht darum, das Gesetz als solches abzuschaffen, sondern genauer anzuschauen, was eigentlich durch Gesetze geregelt werden kann, was dagegen nicht. Und dass ein allgemeines Gesetz besteht, wonach die eine Seite fahren darf, während die andere Seite warten muss, und dass das durch Ampeln etc. geregelt wird, finde ich richtig. Wer bei Rot fährt, bricht dann aber eben das Gesetz. Ich kann mir nicht vorstellen, dass dieses Gesetz seine Gültigkeit verliert, wenn einer deshalb bei Rot fährt, weil alles frei ist. Das sind seine persönlichen Gründe. Das Gesetz bleibt dabei das Gesetz, sonst wäre es ja keines. Die Sache läge erst dann anders, wenn es eben wiederum allgemeingültiges Gesetz wäre, dass man bei freier Sicht trotzdem fahren kann. Dann müssten wir eben über dieses Gesetz reden, und ein anderes Beispiel wählen. Aber Gesetze als solche gelten immer allgemein, sonst wären es keine Gesetze, sondern individuelle Urteile.

Die eigentliche Frage liegt also m.E. doch woanders. Du sprichst es ja selbst an. Etwas ganz anderes ist nämlich die Frage, wie man das betrachten soll, was sich dann an den Gesetzesbruch anschliesst, nämlich die BEURTEILUNG des Gesetzesbrechers. Da ist nach meiner Auffassung heute fälschlicherweise in den Staat hineingezogen. Der Richter steht nämlich NICHT auf der Seite des Rechtslebens, sondern auf der Seite des Geisteslebens. Das „Urteil“ eines Richters ist kein Gesetz, sondern hat Erkenntnischarakter, sofern es nämlich das allgemeine Gesetz auf den konkreten Einzelfall bezieht (Dass in Deutschland gewisse Gerichtsurteile Gesetzescharakter haben, ist ein anderes Problem). Rudolf Steiner fordert dementsprechend die Unterstellung des Richteramts nicht unter den Staat, sondern unter ein freies Geistesleben, also unter genau die Prozesse, die ich in meinem Vortrag für das Schulwesen beschrieben habe. Das heisst, WIE dann mit jemandem zu verfahren ist, der bei Rot fährt, das kann ganz „individuell“ sein.

Das „Moralische“ im Sinn eines auf eine konkrete Handlung bezogenen Urteils gehört für mich gerade nicht zum Rechtsleben. Ich würde sogar sagen: Wenn man (wie am Beispiel des Richters skizziert) aus dem Staat rauslöst, was heute an „Moralischem“ in ihm ist, kommt man erst auf das reine Rechtsleben. Auch dieses Rechtsleben ist natürlich immer „nur“ ein "gegenwärtiges" Rechtsleben, also das, was eben dem Rechtsgefühl der Menschen entspringt. Aber Demokrat zu sein bedeutet für mich, dieses Rechtsleben in seiner Unvollkommenheit anzunehmen. Auch deshalb ist es für mich so wichtig, dass das Gesetz in Zukunft alles das, was eine Frage der individuellen Erkenntnis oder Moral sein muss, nicht umschliessen darf - weil man sonst eben nicht mehr Demokrat sein kann. Anders gesagt: Die Frage der Diskrepanz zwischen Moral und Rechtsleben stellt sich für mich bei einer Dreigliederung gar nicht mehr, weil ja dann das individuelle Urteil vom Gesetz nicht mehr beeinträchtigt wird. Ist das nachvollziehbar?

Herzliche Grüße
Johannes

Stefan Oe. hat gesagt…

Lieber Johannes, das ist nicht nur nachvollziehbar, das ist phänomenal. Das man die Sache so anfassen kann, darauf wäre ich nie gekommen.

Das hieße aber dann auch: ein Richter könnte sich nie hinter dem Gesetz verstecken und sagen: tut mir leid, so und so muss ich entscheiden, etwas anderes gibt der Gesetzestext nicht her.

Inwiefern ist er denn noch an das Gesetz "gebunden"? Eigentlich dürfte er es ja gar nicht mehr sein. Nur so wird er frei Urteile fällen können, oder?

-- Für mich ganz wesentlich wird nun nochmals die Frage: was ist das eigentlich, dieses Rechtsleben. Also nicht, wie erfasst man es theoretisch, sondern wie entdeckt man es im Leben als eigenständiges Glied des sozialen Organismus, das notwendig ist und dessen Selbstständigkeit notwendig ist. Offensichtlich ist mir persönlich da irgendetwas zunächst fremd. Dass wir Bedürfnisse haben und produzieren und dass das irgendwie zusammenkommen muss, das sehe ich im Leben; dass wir diese individuellen, moralischen Urteile fällen und jeden Tag fällen müssen, erlebe ich auch. Aber das Rechtsleben...? Muss da weiter drüber nachsinnen...

PS: Ich ziehe gerade um, bitte nicht wundern, wenn bis zur nächsten Reaktion von mir etwas Abstand sein sollte.

Stefan Oe. hat gesagt…

Noch etwas anderes, passt aber gerade hierher:
Ein Thema, dass mich seit längerem sehr bewegt, ist die sogenannte "Inklusion im Bildungswesen". "Inklusion" beinhaltet die gemeinsame Beschulung und Unterrichtung behinderter und nicht-behinderter Kinder. Sie sollen wie selbstverständlich zusammen sein.
Ausgangspunkt dieser Entwicklung, die jetzt in Deutschland sehr stark einsetzt, war die Behindertenrechtskonvention der UN. Da steht drinnen - und die Repräsentanten der BRD haben das unterschrieben - dass Behinderte nicht vom allgemeinen Schulsystem ausgeschlossen und in ein Sonderschulsystem abgeschoben werden dürfen.
So jedenfalls die "strenge" Lesweise der Konvention. Es gibt auch weniger enge Interpretation, aber sie laufen auf eher schwammige inhaltliche Bestimmungen des Begriffs "Inklusion" hinaus. Inklusion ist dann manchmal nur dieses allgemeine Gefühl, dass wir alle gleichermaßen Teil der einen Menschheit sind... Das Gefühl mag berechtigt sein, aber sofern man keine konkreten Maßnahmen daraus ableitet und sich Gedanken macht, worauf man sie gründet (Recht? Individuelles Urteil?), solange schippert man im Abstrakten.
Darum erscheinen mir die harten Inklusions-Befürworter - jene, die definitiv die *eine* Schule für alle und damit die Abschaffung der "Sonderschulen" wollen - als die Konsequentesten. Sie stützen sich nun sehr stark auf die Meinung, das Inklusion ein "Recht" sei. Sie versteigen sich dahin zu meinen, dass jeder, der ein Kind nicht an die allegemeine Schule inkludiert, dass rechtfertigen müsse. Auch die Eltern, denn sie seien die treuhänderischen Verwalter des Rechtes ihres Kindes auf Inklusion.
Also, wenn ein Kind große Gruppen nicht aushält, dort nicht lernen kann und ähnliches, dann könnte man vorsichtig darüber zu reden beginnen, dass es gesondert beschult werde.
Das hört sich pädagogisch alles sehr schön an und man ist auch in anthroposophischen Kreisen nicht sparsam mit Verweisen auf den "Inklusions-Impuls" und die gewichtige Bedeutung der "Menschenrechte"...
Nur: kann man das gemeinsame Lernen zu einem Recht machen? Wenn Eltern und Lehrer entscheiden, Kinder gesondert zu beschulen, sollen sie sich dafür jedesmal rechtfertigen müssen? Und muss eine Schule, ein Lehrer nun jeden aufnehmen, nur weil er ja niemanden "diskrimieren" darf?
(Fortsetzung folgt)

Stefan Oe. hat gesagt…
Dieser Kommentar wurde vom Autor entfernt.
Stefan Oe. hat gesagt…

Ich meine, wir bekommen mit der sogenannten "Inklusion" eine Rechtsangelegenheit ins Bildungswesen, d.h. ins Geistesleben hereingedrückt. Die Auffassung, dass alle innerhalb des "allgemeinen" Schulsystems beschult werden müssen, weil alles andere einen diskrimierenden Ausschluss bedeuten würde, kommt doch nur zustande, weil es überhaupt ein "einheitliches" - sprich: staatliches - Schulwesen gibt. Wenn alle Schulen nach dem gleichen Prinzip laufen und der Lehrer und die Mitschüler nicht als Individuen sondern als Amtsinhaber bzw. abstrakte, allgemeine Menschenwesen aufgefasst werden, kann man natürlich von einer Ungleichheit und Diskriminierung sprechen, wenn Einzelne nicht mit "dabei" sein dürfen.
Allein: die Gleichmacherei ist ja gerade der Fehler. Im Prinzip bräuchten wir nicht die eine Schule für alle, sondern eine andere Schule für jeden. Die Schulen müssen sich aus dem *konkreten* Dreieck *bestimmter* Lehrer-Eltern-Schüler frei ergeben. Und da kann es sein, dass Behinderte mit nicht Behinderte, nur Behinderte oder nur Nicht-behinderte an einer Schule unterrichtet werden, weil man das eben so will.
Die Inklusions-Anhänher wollen die Menschheit gerne dadurch zu Toleranz, gegenseitiger Rücksichtnahme usw. erziehen, indem sie das Gemeinsam-sein per Gesetz erzwingen. Sie übergehen die Tatsache, dass innerhalb der Pädagogik noch wesentlich mehr Gesichtspunkte eine Rolle spielen, auch solche, die gegen einen gemeinsamen Unterricht sprechen. Das leugnen sie oft. Aber selbst wenn diese Leugnung berechtigt wäre - wenn es also pädagogisch gut wäre, dass wirklich *alle* Kinder ungeachtet ihrer Behinderung gemeinsam unterrichtet würden - darf man sich auf ein Gesetz berufen, um das zu erzwingen? Ich mein, das kann nicht sein!
Wie siehst du das Thema Inklusion im Bildungswesen aus Sicht der Dreigliederung?